Kein klarer Wahlsieger in Frankreich
13. Juni 2022Kurz nach seiner Wiederwahl muss der französische Staatschef Emmanuel Macron damit rechnen, dass ihm die künftigen Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung ein "Durchregieren" schwer machen.
In der ersten Runde der Parlamentswahl holte die links-grüne Allianz "Nupes" von Jean-Luc Mélenchon fast gleich viele Stimmen (25,7 Prozent) wie das Mitte-Lager "Ensemble" des Präsidenten (25,8 Prozent). Der Unterschied betrug nach offiziellen Angaben gerade einmal 21.442 Stimmen - bei rund 48,7 Millionen Wahlberechtigten.
Allerdings führt das komplizierte Wahlsystem zu teils gravierenden Unterschieden zwischen Prozentanteilen und der Sitzverteilung. Denn am Ende zählen nur die Stimmen für den Gewinner im jeweiligen Wahlkreis. Umfrageinstitute gehen davon aus, dass Macrons Lager in der zweiten Runde am kommenden Sonntag viele Stimmen von Wählern einsammeln kann, deren bevorzugte Kandidaten in der ersten Runde ausgeschieden sind.
Absolute Mehrheit in Gefahr
So dürften Macrons Unterstützer auf 255 bis 295 der insgesamt 577 Sitze im Parlament kommen - mindestens 289 Sitze sind für die absolute Mehrheit nötig. Für das linke "Nupes"-Bündnis werden trotz seines guten Abschneidens lediglich 150 bis 210 Sitze prognostiziert. Verliert Macron die absolute Mehrheit, müsste er regelmäßig andere Lager umwerben und sich auf deutlich mehr Kompromisse einlassen - etwa bei der geplanten Rentenreform.
Mélenchon bewertete das Wahlergebnis deshalb schon als deutliche Schlappe für seinen Widersacher Macron. "Die Wahrheit ist, dass die Präsidentenpartei in der ersten Runde geschlagen und besiegt ist", sagte er am Sonntagabend in Paris.
Die Rechtspopulistin Marine Le Pen zeigte sich optimistisch, dass ihre Partei "Rassemblement National" künftig eine eigene Fraktion bilden kann. Dazu sind 15 Abgeordnete nötig, ihre Partei kommt nach derzeitigen Schätzungen auf zehn bis 30 Sitze.
Die von Macron kürzlich ins Amt beförderte Premierministerin Elisabeth Borne rief mit Blick auf die Stichwahl zu einer "Woche der Mobilisierung" auf. Sie und 14 weitere Regierungsmitglieder sind selbst bei der Parlamentswahl angetreten und riskieren ihre Kabinettsposten, wenn sie in ihren Wahlkreisen nicht gewinnen.
Ob sich die Mehrheit der Franzosen tatsächlich mobilisieren lässt, ist ungewiss. Am Sonntag zeigten sich viele jedenfalls wahlmüde - die Wahlbeteiligung fiel erneut auf einen Tiefstand. Nicht einmal jeder zweite Wahlberechtigte gab seine Stimme ab.
wa/ack (afp, dpa, rtr)