Keine breite Protestbewegung in Russland
12. April 2021Nach den Kundgebungen im Winter in mehreren russischen Städten, bei denen Hunderte Menschen festgenommen wurden, hat das Team des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny weitere Straßenproteste angekündigt. Sobald sich mehr als eine halbe Million Teilnehmer auf einer Website angemeldet haben, wollen die Organisatoren das genaue Datum ihrer Aktion bekannt geben.
Nawalnys Hungerstreik, in dem er sich seit Ende März befindet, könnte aber nur für einen kleinen Teil der Russen zu einem Katalysator für weitere Proteste werden, glauben Experten, mit denen die DW gesprochen hat. Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum zufolge erreicht Nawalny maximal 20 Prozent der Russen. Für sie sei der Hungerstreik ein schwerwiegender Grund, auf die Straße zu gehen, so der russische Soziologe Alexej Titkow. Der überwiegenden Mehrheit der Russen aber sei das Schicksal Nawalnys eher gleichgültig.
Proteststimmung schwindet - trotz Nawalnys Hungerstreik
Zwar arbeitet das Nawalny-Team an der Organisation der "größten Kundgebung in der Geschichte Russlands" seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Rahmenbedingungen dafür sind allerdings schlecht. Dem Lewada-Zentrum zufolge ist die Protestbereitschaft der Russen seit Anfang 2021 beständig gesunken. Im Frühjahr 2020 gaben noch rund 30 Prozent der Befragten an, in den nächsten zwei bis drei Monaten an Kundgebungen teilnehmen zu wollen. Jetzt sind es nur noch rund 20 Prozent.
"Dies ist in erster Linie auf das Ende der zweiten Welle der Pandemie zurückzuführen. Dies ebnet den Weg aus der Quarantäne und führt zu einer Rückkehr zu einem mehr oder weniger normalen Leben", analysiert der Soziologe Denis Wolkow vom Lewada-Zentrum. Seinen Beobachtungen zufolge sind die wichtigsten Unterstützer von Nawalny junge Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren, und die seien derzeit ein wenig entmutigt, auch weil die Behörden mit aller Härte auf die Proteste im Winter reagiert hätten.
Tatsächlich protestiert hätte laut Lewada-Zentrum letztendlich nur rund ein Prozent der Befragten. "Es sind zwei verschiedene Dinge: zu sagen, auf die Straße gehen zu wollen, und es dann wirklich im Angesicht von Schlagstöcken zu tun", so der Soziologe Alexej Titkow.
Demonstrationen in mehr Regionen
Insgesamt geht die Protestbereitschaft in Russland zwar zurück. Dafür breitet sie sich immer mehr über das ganze Land aus. Seit 2017 beobachten Experten Demonstrationen in immer mehr russischen Regionen - darunter auch in Städten, die zuvor als eher ruhig galten. Dabei spiegelt die geografische Ausbreitung der Proteste auch die Strukturen von Alexej Nawalnys Stiftung wider. Dort, wo seine Organisatoren vor Ort waren, gingen die Menschen auf die Straße. Dem Soziologen Denis Wolkow zufolge lag das aber nicht nur an den Geschehnissen rund um Nawalny. Russen protestierten auch gegen andere Missstände, wie die Kritik an der Rentenreform von 2018 zeigt.
Oft gab es auch lokale Gründe, auf die Straße zu gehen, wie die Proteste gegen den Bau einer umstrittenen Giftmülldeponie in der Region Archangelsk, die Demonstrationen in Chabarowsk gegen die Festnahme des Gouverneurs Sergej Furgal oder Protestaktionen gegen den geplanten Abbau von Kalkstein am Berg Kuschtau, einem Naturdenkmal in der Teilrepublik Baschkortostan. Doch diese Proteste bleiben lokal, so Titkow, "sie folgen keiner gemeinsamen Agenda."
Verschiedene Protestlager
Soziologen gehen auch nicht davon aus, dass sich die unterschiedlichen Gruppen einmal zusammenschließen werden. Sie haben verschiedene Einkommen, befinden sich in verschiedenen Lebenssituationen und unterscheiden sich auch sehr in ihren politischen Einstellungen. Diejenigen, die im Januar protestierten, kommen zumeist aus der russischen Mittelschicht. Sie sympathisieren zwar mit Nawalny, zählen sich aber nicht alle zu seinen Anhängern.
"Aber es gibt auch noch andere Menschen, die ihrem Ärger Luft machen könnten", sagt Wolkow. Das seien meist wirtschaftlich Schwächere. "Sie sind eher Anhänger der Kommunistischen Partei, darunter viele ältere Menschen, und sie nutzen keine sozialen Netzwerke und glauben dem Staatsfernsehen.
Nawalny kann dieses Publikum noch nicht erreichen, obwohl er es mit einer Debatte über Gerechtigkeit und Sozialleistungen versucht hatte. Für diese Menschen bleibt er ein 'Betrüger, der Holz unterschlagen und sich sogar selbst vergiftet hat'", so Wolkow.
Unzufriedenheit als Hauptmotiv
Auch wenn die Protestlager unterschiedlich sind, eint sie doch ihre Unzufriedenheit mit dem Leben, betonen Soziologen. "Die Menschen sind ihrer Lage überdrüssig. Sie werden von Zukunftsangst und dem Gefühl getrieben, dass sich alles in die falsche Richtung bewegt", sagt Wolkow.
Andrej Kolesnikow vom Carnegie Center meint, die Demonstranten würden heute nicht mehr von Illusionen und Euphorie getragen, wie es bei den Protesten 2011/2012 gewesen sei. "Den Menschen ist klar, dass es Repressionen gibt und die Staatsmacht weder zu einem Dialog noch zu Kompromissen bereit ist", so der Experte.
Die Jugend ist keine treibende Kraft
Im Zusammenhang mit den Protesten im Januar wurde viel von einer Politisierung russischer Jugendlicher geschrieben, insbesondere über das soziale Netzwerk TikTok. Doch Soziologen haben weder 2017 noch in diesem Jahr einen Zuwachs der Beteiligung von Jugendlichen an den Protesten beobachtet. "Auf die Straße gehen deutlich mehr Leute im Alter zwischen 20 und 40 Jahren", betont Alexej Titkow.
In Russland kursierte zeitweise ein TikTok-Video, in dem ein Schüler bei Protestkundgebungen für Alexej Nawalny mitlief und auch andere Menschen dazu aufrief, auf die Straße zu gehen. Doch dieses Video sei von den Behörden erfunden worden, um die Proteste zu diskreditieren, so Wolkow. "Ein großer Teil der Gesellschaft, insbesondere die ältere Generation, glaubte, dass es ein reiner Schülerprotest war. Von diesen Leuten wurde Nawalny sogar beschimpft, weil er Kinder in die Sache hineingezogen habe. In dieser Hinsicht hat die russische Propaganda funktioniert", so Wolkow.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk