Keine Grenzen für Gotteskrieger
31. August 2014Er ist jung, hat türkische Wurzeln und wächst in Hamburg auf: ein ganz normaler Jugendlicher aus der norddeutschen Metropole. Doch dann, erzählt die Hamburger Kommunalpolitikerin Gülnur Can, bekommt der junge Mann aus ihrem Bekanntenkreis Kontakt zu Salafisten - und beginnt sich zu verändern. "Es fing alles ganz harmlos an", erinnert sich Can. Die Familie habe deshalb zu spät erkannt, in welchen Kreisen der Sohn verkehre. "Er hat angefangen, an dem Kleidungsstil seiner Schwestern herumzunörgeln und versucht, ihnen vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden haben. Plötzlich hat er seiner eigenen Familie vorgeworfen, sie seien ungläubig, sie würden vor dem Fernseher sitzen und zusehen, wie andere unschuldige Muslime ermordet werden."
Während der Rest der Familie im Urlaub ist, macht sich der junge Mann auf und davon, um sich den Islamisten im Nahen Osten anzuschließen. Er ist bei weitem nicht der Einzige, der der Propaganda der Radikalen folgt: Allein aus Deutschland sollen bereits 400 junge Männer nach Syrien und in den Irak gereist sein, um für den "Islamischen Staat" und andere islamistische Gruppierungen zu kämpfen. Dem Bundesamt für Verfassungsschutz zufolge haben fünf Dschihadisten aus Deutschland Selbstmordanschläge in Syrien und im Irak verübt. Um in die umkämpften Gebiete zu gelangen, hat zumindest ein Teil der jungen Männer den Weg über die Türkei gewählt.
Laxe Kontrollen an der Grenze
Zwar beteuert die türkische Regierung, die Grenze zu Syrien sei geschlossen. Aber immer wieder kommt es vor, dass Menschen und Fahrzeuge ungehindert die Seiten wechseln können. Auch Waffen und Munition sollen geschmuggelt worden sein. Die Grenze erstreckt sich über insgesamt 900 Kilometer, teilweise durch unwegsames Gelände. Syrische Flüchtlinge zum Beispiel profitieren davon. Die laxen Kontrollen sind aber auch für kriminelle Organisationen ein Geschenk - und für potenzielle Gotteskrieger. Die türkische Regierung weist den Vorwurf, die Terrormiliz "Islamischer Staat" oder andere Extremisten zu unterstützen, entschieden zurück. Dennoch ist sie bei den westlichen Partnern unter Verdacht geraten.
Gülnur Can konnte kaum glauben, was sie von der deutschen Vertretung in Ankara erfuhr, als sie sich auf die Suche nach dem jungen Mann aus Hamburg machte - zusammen mit seiner Familie: "Der deutsche Botschafter hat uns bestätigt, dass die syrische Grenze nicht kontrolliert wird, also dass da praktisch jeder rein und raus kann", erzählt sie. "Wir waren geschockt." Für die deutschen Behörden sind die durchlässigen Grenzen gleich ein doppeltes Problem. Weil sie die jungen Männer nicht daran hindern können, in die Kriegsgebiete vorzudringen und sich den Terrorgruppen anzuschließen. Aber auch, weil die Gotteskrieger später ohne größere Schwierigkeiten nach Deutschland zurückkommen können - zum Beispiel über die Türkei.
"Keiner kommt aus Syrien direkt nach Bremen", sagte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer dem Nordwestradio. Der SPD-Politiker hat sich in der vergangenen Woche mit seinen Kollegen zu diesem Thema ausgetauscht und die Route der europäischen Gotteskrieger nachvollzogen. "Die jungen Männer gehen in die Türkei. Man denkt, das sei eine Urlaubsreise, und dann gehen sie über die Grenze. Sie kommen dann aus anderen Ländern zurück nach Frankfurt und sind dann irgendwann wieder in Bremen."
Zwar werde versucht, die Rückkehr von Dschihadisten zu verhindern, sagt Mäurer. Aber Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft dürften an der Grenze nicht abgewiesen werden. Und Islamisten aus dem Ausland die Einreise zu verweigern oder die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen, sei ausgesprochen schwierig: "Die Grenzkontrollen sind teilweise ganz miserabel, was die Türkei angeht, und deshalb haben wir natürlich praktische Probleme im Vollzug dieser ganzen Dinge."
Beobachtung durch den Verfassungsschutz
Hinzu komme, dass nur schwer nachzuprüfen sei, ob ein Rückkehrer tatsächlich an den Gräueltaten der Islamisten beteiligt war. "Es gibt ja keine normale Zusammenarbeit mit Syrien", sagt Mäurer. Mutmaßliche Gotteskrieger würden deshalb in Deutschland von Polizei und Verfassungsschutz beobachtet. "Das ist sehr personalintensiv, aber ich sehe keine Alternative dazu."
Auch der Nahost- und Islam-Experte Michael Lüders sieht in den islamistischen Kämpfern aus Syrien und Irak eine ernsthafte Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. "Man muss ein wachsames Auge auf diese Rückkehrer haben", sagte der Politikberater in einem Radio-Bremen-Interview. "Es kann durchaus ein mittelfristiges Problem werden. Kurzfristig müssen wir uns allerdings keine Sorgen machen." Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, sprach im Deutschlandfunk von einer "erhöhten abstrakten Gefahr". Konkrete Hinweise gebe es noch nicht.
Forderung nach Eingliederungsprogrammen
Tatsächlich gibt es auch Rückkehrer, die sich von den Islamisten abgewandt haben. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine ganze Anzahl von Personen zurückgekommen ist, die jetzt bereit sind, mit der Polizei zusammenzuarbeiten und dazu beitragen, dass junge Leute nicht auswandern", berichtet Innensenator Mäurer. Die Linkspartei-Abgeordnete Ulla Jelpke fordert Wiedereingliederungsprogramme, die verhindern sollen, dass desillusionierte Rückkehrer wieder in die Szene abgleiten und zu einer terroristischen Gefahr werden.
Eine Idee, die auch Gülnur Can überzeugt. "Ich glaube, dass es nicht ohne gehen wird", sagt die grüne Bezirksabgeordnete im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Viele junge Männer sähen sich nicht als Helden, sondern seien traumatisiert. "Falls sie es schaffen, überhaupt zurückzukehren, muss man sie auffangen und psychologisch betreuen", meint Can. Für Ihre Taten müssten sie dennoch zur Verantwortung gezogen werden - auch, um potentielle Nachahmer abzuschrecken. Can appelliert an die betroffenen Familien, sich mit ihrer Scham und ihren Schuldgefühlen nicht zurückzuziehen, sondern sich an die Behörden und die Öffentlichkeit zu wenden - um größeres Unglück zu vermeiden. Ein umfassendes Konzept für den Umgang mit den ehemaligen Gotteskriegern fehlt bislang allerdings.