Verständigung auf Schaffung "humanitärer Korridore"
3. März 2022Die wichtigsten Informationen in Kürze:
- Einigung auf humanitäre Korridore für Zivilisten
- Deutschland: Glockengeläut und Demonstrationen
- EU gewährt Flüchtlingen Zuflucht
- USA: Sanktionen gegen russische Oligarchen
- Deutschland will weitere Waffen liefern
- Steinmeier besucht NATO-Truppe in Litauen
- Ukraine: Mariupol weiter hart umkämpft
Eine Woche nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine haben sich Kiew und Moskau nach ukrainischen Angaben auf die Schaffung humanitärer Korridore verständigt, um Zivilisten aus Kriegsgebieten herausholen zu können. Die russische Seite sprach von einem substanziellen Fortschritt. Man habe sich darauf verständigt, die Schaffung von Korridoren zu unterstützen.
Dies sei das einzige Ergebnis einer zweiten Gesprächsrunde mit Russland, erklärte der ukrainische Unterhändler Mychailo Podoljak nach Abschluss der Gespräche an der belarussisch-polnischen Grenze auf Twitter.
"Die zweite Gesprächsrunde ist vorbei. Leider gibt es noch nicht die von der Ukraine benötigten Ergebnisse", schrieb Podoljak. Eine erste Verhandlungsrunde russischer und ukrainischer Vertreter in Belarus am Montag war ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Kiew hatte vor Gesprächsbeginn unter anderem eine sofortige Waffenruhe gefordert.
Der russische Staatschef Wladimir Putin hatte vor den zweiten Gesprächen in Belarus in einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Forderungen seines Landes nach einer Demilitarisierung der Ukraine und deren neutralen Status bekräftigt. Zugleich drohte Putin neue Forderungen an. Jeglicher Versuch der Ukraine, Verhandlungen hinaus zu zögern, habe zur Folge, dass Russland mehr Forderungen stelle, zitiert das russische Präsidialamt Putin. Nach Angaben aus Paris ging die Initiative für das Telefonat von Putin aus.
Glockengeläut und Demonstrationen in Deutschland
Als Zeichen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine haben deutschlandweit die Glocken vieler Gotteshäuser aus Solidarität mit den Ukrainern sieben Minuten lang geläutet. Unter anderen beteiligten sich der Kölner Dom, die Kathedrale in Münster oder auch der Dom in Essen, wie es auf Anfrage hieß. Die Europäische Vereinigung der Dombaumeister hatte dazu aufgerufen, ab 12.00 Uhr "jede Minute für einen Tag dieses unsinnigen Krieges" die Glocken erklingen zu lassen.
Zehntausende überwiegend junge Menschen folgten zudem einem bundes- und weltweiten Protestaufruf der Klimaschutzinitiative Fridays for Future. In Hamburg versammelte sich eine große Menschenmenge auf dem Spielbudenplatz und der Reeperbahn. "Hamburg ist heute zusammengekommen, um Solidarität zu zeigen", sagte Luisa Neubauer von Fridays for Future in einer emotionalen Rede.
Nach Angaben der Organisatoren kamen in der Hansestadt 120.000 Menschen zusammen. Die Polizei hatte zunächst von 20.000 Teilnehmern berichtet.
Mehrere Tausend Schüler demonstrierten auch im Berliner Regierungsviertel gegen den Krieg Russlands in der Ukraine. Sie versammelten sich mit Transparenten und Schildern vor dem Reichstagsgebäude. Die Polizei schätzte die Teilnehmerzahl auf rund 5000, Fridays for Future sprach von 11.000.
Schutzstatus für Ukraine-Flüchtlinge in der EU
Die EU-Staaten haben sich auf einen Schutzstatus für die Flüchtlinge aus der Ukraine geeinigt. Wie EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf Twitter mitteilte, stimmten die Innenminister der Mitgliedsländer in Brüssel der vorübergehenden Aufnahme der Menschen zu. Johansson sprach von einer "historischen Entscheidung".
Der Schutzstatus ist für zunächst ein Jahr vorgesehen und kann auf insgesamt drei Jahre verlängert werden. Laut Johansson erhalten ukrainische Staatsbürger, die vor dem Krieg in ihrem Heimatland fliehen, in der EU unbürokratisch und schnell eine Aufenthaltsgenehmigung, ohne dabei etwa ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Diese Regelung gilt nicht für Angehörige von Drittstaaten. Diese Personen würden nach ihrer Ankunft auf EU-Gebiet in ihre Heimatländer gebracht, sagte die Innenkommissarin.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat der russische Angriff auf die Ukraine die bislang rascheste Massenflucht des 21. Jahrhunderts ausgelöst: In der ersten Woche des Krieges haben rund eine Million Menschen das Land verlassen - das entspricht rund zwei Prozent der 44 Millionen Bewohner. Am Ende könnten es laut UNHCR-Schätzungen vier Millionen oder sogar mehr werden, die Zuflucht in anderen europäischen Ländern suchen.
Polenhat bislang mit mehr als einer halben Million Menschen die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, gefolgt von Ungarn, Moldau, der Slowakei und Rumänien. UNHCR-Chef Filippo Grandi schrieb auf Twitter: "Für viele weitere Millionen in der Ukraine ist es an der Zeit, dass die Waffen verstummen, damit lebensrettende humanitäre Hilfe geleistet werden kann."
USA: Sanktionen gegen russische Oligarchen
Das US-Präsidialamt hat Sanktionen und Einreisebeschränkungen gegen 19 russische Oligarchen, ihre Familien und Verbündete angekündigt. Die Betroffenen würden den russischen Präsidenten Wladimir Putin "trotz seiner brutalen Invasion in die Ukraine weiterhin unterstützen", teilte das Weiße Haus zur Begründung mit. Die Sanktionen treffen auch Menschen aus Putins engerem Kreis wie Kremlsprecher Dmitri Peskow. Betroffene würden vom US-Finanzsystem abgeschnitten, etwaiger Besitz werde eingefroren, hieß es aus Washington.
Das Weiße Haus teilte weiter mit, auf die Sanktionsliste würden sieben russische Organisationen gesetzt, die für "Desinformation" verantwortlich seien. In diesem Zusammenhang würden Strafmaßnahmen gegen 26 weitere Personen in Russland und der Ukraine verhängt, die wichtige Rollen in diesen Organisationen spielten. Sie verbreiteten Falschinformationen, mit der der Kreml den Einmarsch in die Ukraine rechtfertigen wolle.
Weitere Waffen aus Deutschland
Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hat das Wirtschaftsministerium die Abgabe von 2700 Stück Flugabwehrraketen vom Typ "Strela" an die Ukraine genehmigt. Dabei handle es sich um Waffen sowjetischer Produktion aus ehemaligen Beständen der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Deutschland hatte zuvor einen Kurswechsel in der Ukraine-Krise vollzogen und die Streitkräfte des von Russland angegriffenen Landes mit schweren Waffen ausgerüstet. So hatte die Bundesregierung am Samstag entschieden, 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ "Stinger" aus Bundeswehrbeständen so schnell wie möglich in die Ukraine zu liefern.
Aus Kreisen der Bundesregierung wurde am Mittwoch erklärt, die "Stinger" sowie Panzerfäuste seien an die Ukraine übergeben worden. Außerdem wurde den NATO-Partnern Niederlande und Estland die Lieferung von Waffen an die Ukraine genehmigt, die aus deutscher Produktion oder DDR-Beständen stammen.
Georgien und Moldau wollen der EU beitreten
Wie die Ukraine wollen nun auch die Ex-Sowjetrepubliken Georgien und Moldau in die EU aufgenommen werden. Die moldauische Präsidentin Maia Sandu unterzeichnete einen entsprechenden Antrag. In einer Mitteilung hieß es: "In der gegenwärtigen schwierigen Situation müssen wir schnell und klar handeln, um eine europäische Zukunft, Freiheit und Demokratie für unsere Bürger zu gewährleisten." Auch Georgien reichte, wie angekündigt, einen Antrag ein.
Die EU-Kommission plädiert indes dafür, dass sich zunächst die EU-Staats- und Regierungschefs mit dem Ersuchen der Ukraine befassen. Über einen Beitritt zur Europäischen Union entscheiden schlussendlich die EU-Länder.
Russen 20 Kilometer von Kiew entfernt
Die ukrainischen Truppen stehen an etlichen Orten des Landes schwer unter Druck. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs haben sich russische Truppen nördlich und nordwestlich von Kiew in 20 bis 30 Kilometern Entfernung von der Stadtgrenze festgesetzt und Feldlager errichtet. Im Osten der Stadt seien russische Truppen nur noch etwa 50 Kilometer von den Stadtgrenzen entfernt und bewegten sich auf die Vorstadt Browary zu. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko teilte mit, etwa die Hälfte der Bevölkerung von ursprünglich drei Millionen Menschen habe die Hauptstadt inzwischen verlassen.
Der ehemalige Vize- Justizminister der Ukraine, Sergej Petuchow, sagte im DW-Interview, die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt seien gut vorbereitet und wollten Kiew verteidigen. "Es gibt keine Panik", sagte Petuchow. Es sei klar, dass Russland "einen schnellen Sieg in einem netten kleinen Krieg erwartete - das ist völlig gescheitert". Die Russen würden den Krieg nicht gewinnen, selbst wenn ihre Streitkräfte Kiew einnehmen oder den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyy gefangen nehmen würden. "Ich glaube, die Russen haben sich verkalkuliert, denn niemand wird den Widerstand aufhalten."
Ukraine: Mariupol weiter hart umkämpft
Laut ukrainischem Generalstab werden die nordostukrainischen Großstädte Tschernihiw und Sumy weiter belagert. Im Gebiet Charkiw sei die Stadt Balaklija mit ihrem großen Munitionsdepot weiter umkämpft. Unter Beschuss geraten ist laut Medienberichten auch die Kleinstadt Isjum an der Grenze der Gebiete Charkiw und Luhansk.
Die von Russland gemeldete Einschließung der südukrainischen Hafenstadt Mariupol bestätigte die Ukraine nicht. Um die Großstadt werde weiter schwer gekämpft. Stromausfälle und Wassermangel prägten den Alltag. Mariupol gilt als strategisch wichtig, weil die Hafenstadt zwischen der von Russland annektierten Halbinsel Krim sowie den von Russland destabilisierten sogenannten Volksrepubliken im Donbass liegt. Käme sie unter russische Kontrolle, würde das einen Zusammenschluss russischer Truppen erleichtern.
Der Generalstab warnte zudem vor einer möglichen russischen Landungsoperation nahe der südrussischen Hafenstadt Odessa. Vier Landungsschiffe würden sich auf die ukrainische Küste zubewegen.
Die Stadt Cherson im zentralen Süden der Ukraine war am Mittwoch als erste Großstadt an russische Truppen gefallen. Regionalverwaltungschef Gennady Lakhuta schrieb bei Telegram, russische "Besatzer" seien in allen Stadtteilen und "sehr gefährlich". Die Stadt gilt wegen ihres Hafens als strategisch bedeutsam. Nicht verifizierbare Videos in sozialen Medien sollen Militärkolonnen im Stadtgebiet zeigen.
Steinmeier besucht NATO-Truppe in Litauen
Bei einem Besuch in Litauen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den NATO-Ländern in Osteuropa den uneingeschränkten Beistand Deutschlands zugesichert. "Die Bündnissolidarität gilt ohne Wenn und Aber", sagte Steinmeier auf dem multinationalen NATO -Stützpunkt im litauischen Rukla.
"Deutschland hat mit Waffenlieferungen an die Ukraine einen großen Schritt gemacht und mit manchen alten Gewissheiten gebrochen", sagte der Bundespräsident. Dazu zähle auch die "deutliche Steigerung" des Verteidigungshaushalts, die Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigt habe.
Litauens Präsident Gitanas Nauseda begrüßte dies als "historische Entscheidung". Er verwies auf die Bedrohungslage für sein Land, das an die russische Exklave Kaliningrad und den Russland-Verbündeten Belarus angrenzt.
Selenskyj: Besetzer erhalten "heftige Gegenwehr"
Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, die Besetzer der Ukraine würden im Land keinen Frieden, kein Essen und keine ruhige Minute erhalten. Nur eine Sache würden sie von den Ukrainern bekommen: "Eine solch heftige Gegenwehr, dass sie sich für immer daran erinnern, dass wir das Unsere nicht hergeben." Innerhalb einer Woche habe die Ukraine Pläne durchkreuzt, die der "Feind" seit Jahren vorbereitet habe.
Selenskyj sprach von fast 9000 getöteten Russen - Moskau gab die Zahl hingegen mit lediglich 498 an. Gefangen genommene Soldaten sagten, so Selenskyj, sie wüssten nicht, wofür sie in der Ukraine seien. Selenskyj erwähnte die am Mittwoch verabschiedete Resolution der UN-Vollversammlung, in der sich 141 Länder mit der Ukraine solidarisiert und zugleich nur vier sich dem russischen Nein angeschlossen hatten - Nordkorea, Eritrea, Syrien und Belarus. "Das ist die Liste. Das sind die Freunde", sagte Selenskyj.
Kremlkritischer Radiosender Echo Moskwy wird geschlossen
Der russische Hörfunksender Echo Moskwy ("Echo Moskaus") ist nach Angaben seines Chefredakteurs Alexej Wenediktow aufgelöst worden. Bereits am Dienstag hatte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor den Zugang zur Internetseite des Senders auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft eingeschränkt. Wenediktow schrieb danach, die Radioübertragung funktioniere bereits nicht mehr.
Der Sender hatte kritisch über Russlands Krieg gegen die Ukraine berichtet und sich nicht an die Anweisung gehalten, nur offizielle Informationen der russischen Behörden für die Berichterstattung zu verwenden. Die Behörden stellen den Angriffskrieg auf die Ukraine lediglich als "speziellen Militäreinsatz" dar. Echo Moskwy, das mehrheitlich im Besitz des Gaskonzerns Gazprom ist, war einer der wenigen Sender, auf denen sich auch Oppositionelle äußern konnten.
Volkswagen legt Russland-Engagement auf Eis
Volkswagen setzt sein Russland-Geschäft wegen des Krieges gegen die Ukraine aus. "Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs hat der Konzernvorstand entschieden, die Produktion von Fahrzeugen in Russland bis auf weiteres einzustellen, hieß es aus Wolfsburg. Auch Exporte in die Russische Föderation würden "mit sofortiger Wirkung gestoppt. VW betreibt in Kaluga südwestlich von Moskau und im weiter östlich gelegenen Nischni Nowgorod eine eigene Autofertigung. An beiden Standorten werde die Produktion nun vorerst beendet, teilte das Unternehmen mit.
Ebenso sollen keine Autos von Marken aus der VW-Gruppe mehr nach Russland ausgeführt werden. In anderen Ländern hatten die Folgen des Angriffs auf die Ukraine die Produktion von Autobauern bereits ausgebremst - auch bei VW. So gibt es nach der Corona- und Chipkrise weitere größere Arbeitsausfälle in Werken wie Zwickau, Wolfsburg oder Hannover, weil Zulieferteile etwa aus der Westukraine fehlen.
Russischer Milliardär Abramowitsch will FC Chelsea verkaufen
Der russische Oligarch Roman Abramowitsch hat angekündigt, den englischen Fußballverein FC Chelsea zu verkaufen. Abramowitsch erklärte, dieser Schritt sei im besten Interesse des Vereins, der Angestellten sowie seiner Sponsoren und Partner. Der Verkaufserlös solle Kriegsopfern in der Ukraine zugute kommen, hieß es in der Mitteilung.
Abramowitsch war zuvor wegen seiner Nähe zu Russlands Präsident Wladimir Putin zunehmend in die Kritik geraten. In Großbritannien, wo er neben dem Top-Fußballclub einige wertvolle Immobilien besitzt, waren Forderungen nach Sanktionen gegen Abramowitsch lauter geworden.
cw/uh/bri/ehl/sti/se (dpa, afp, ap, rtr)