Klarheit für illegale Pflegekräfte dank Corona?
7. April 2021Kein deutscher Arbeitsvertrag, keine deutsche Krankenversicherung, Bezahlung in Bar und nicht besonders viel. Fast eine dreiviertel Million Frauen, meist aus Polen, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien, pflegen ältere Deutsche, in deren Häusern sie wohnen. Ohne diese Frauen gäbe es einen Versorgungsnotstand. Trotzdem existieren die meisten von ihnen offiziell nicht.
Schätzungsweise 90 Prozent der häuslichen Betreuung in Deutschland wird illegal geleistet. Drei Viertel der ca. 4,1 Millionen Pflegebedürftigen wollen lieber zu Hause gepflegt werden, als ins Heim zu gehen. Die Nachfrage nach häuslicher Pflege boomt also - aber bisher hat sich keine deutsche Regierung zugetraut, diese Branche zu regeln. Illegale Vermittlungsagenturen sind daher weiterhin billiger als ihre legale Konkurrenz, da sie alle Sozialabgaben umgehen und keinen Mindestlohn zahlen.
"Das Beschäftigungsmodell, für jemanden zu arbeiten, in dessen Haus man auch wohnt, ist von dem Rechtsstaat noch nicht anerkannt worden, daher kann es auch keine Rechtssicherheit für die osteuropäischen Betreuungspersonen geben", erklärt Rechtsanwalt Frederic Seebohm, Geschäftsführer des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP).
Die nicht angemeldete Beschäftigung einer Person und die damit verbundene Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen ist eine Straftat, betont Seebohm. Die ungefähr - offizielle Zahlen gibt es nicht - 300.000 Familien, die in dieser "Grauzone" Betreuungspersonal beschäftigen, seien sich überwiegend darüber im Klaren, dass sie gegen das Gesetz verstoßen.
Neue Spielregeln
Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigte Pflegereform "könnte ein Game-Changer sein", so der VHBP-Geschäftsführer weiter. Ihre Eckpunkte präsentierte Spahn im Oktober 2020 mit der Anmerkung: "Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre". Bisher liegt noch kein Gesetzentwurf vor, der im Bundestag vorgestellt werden könnte, aber der Arbeitsentwurf, der am 16.03.2021 freigegeben wurde, sieht eine Anerkennung der häuslichen Betreuung als reguläres Beschäftigungsmodell vor. Das wäre ein Schritt in Richtung einer Regulierung des Sektors, auch wenn die Rechtsgrundlage noch weiter ausgearbeitet werden muss.
Österreich ist Deutschland bei der Regulierung der häuslichen Betreuung weit voraus. Das "Hausbetreuungsgesetz" sieht vor, dass sich häusliche Betreuungskräfte als Selbstständige anmelden dürfen. So macht es Anna Tadrzak, eine 50-jährige Betreuerin aus Polen, die ihren Job über die Wiener Agentur "Caritas rundum betreut" gefunden hat. Sie arbeitet in Schichten von zwei bis vier Wochen; dann macht sie eine ebenso lange Pause.
Vorbild Österreich
Das funktioniere gut, sagt Anna Tadrzak, denn die häusliche Betreuung in der Praxis bedeute 24 Stunden am Tag Dienst. "Wenn der Klient fünfmal in der Nacht nach dir ruft, dann kümmerst du dich fünfmal in der Nacht um ihn. Jeder Tag ist anders", sagt sie. Auch die Art und der Umfang der Arbeit variiere mit den Bedürfnissen und Erwartungen der Familien: "Die Kunden wollen nicht nur Betreuungskräfte, sondern auch Köche, Reinigungskräfte und Einkäufer. Manchmal gibt man den kleinen Finger und sie nehmen den ganzen Arm - und du stehst am Ende ohne jegliche Privatsphäre da."
Die Schwierigkeit, der nicht regulierten Pflegearbeit zeitliche und aufgabenbezogene Grenzen zu setzen, führt dazu, dass viele Betreuende Opfer von Ausbeutung werden. Das Geschäftsmodell der Agenturen, die illegale Pflegekräfte vermitteln, lebt von Deutschlands Nähe zu EU-Ländern mit deutlich niedrigeren Durchschnittseinkommen, deren Bürger Freizügigkeit genießen. In Deutschland ansässige Agenturen gehen Partnerschaften mit Organisationen in Osteuropa ein, die die Anwerbung übernehmen - und vermitteln die Betreuungskräfte dann an deutsche Familien, ohne sie bei der örtlichen Gemeinde anzumelden, eine Krankenversicherung abzuschließen oder ihre Qualifikationen zu prüfen.
Vom unsichtbaren zum systemrelevanten Arbeitnehmenden
"Die Corona-Pandemie hat die Reform der Pflege ausgelöst", spitzt Frederic Seebohm zu. Tatsächlich hatten die abrupten Grenzschließungen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 dazu geführt, dass Pflegekräfte, die sich im Ausland aufhielten, nur schwer wieder zu ihren Patient*innen in Deutschland kommen konnten. Die Folge: Auch illegal arbeitende Betreuende mussten als systemrelevant anerkannt werden. Paradox - schließlich war es der Staat, der gegenüber der nicht angemeldet arbeitenden Mehrheit der Pflegenden lange ein Auge zugedrückt hatte.
Ebenso wurde es im ersten Lockdown erforderlich, Betreuungskräften Zugang zum deutschen Gesundheitssystem zu ermöglichen. Nicht nur, weil manche nun selbst medizinische Behandlung wegen COVID-19 benötigten; sondern auch, weil man ohne Test- und Impfberechtigung riskiert hätte, dass Pflegende diejenigen besonders durch Corona gefährdeten Menschen anstecken könnten, die sie betreuen.
Die Dringlichkeit, mit der die Reform des Betreuungssektors aufgrund der Corona-Krise nun angegangen werden muss, ist jedoch nur ein Teil des Problems. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich übersteigt die Nachfrage nach Betreuungskräften das Angebot bei weitem: "In Österreich werden bis 2030 zwischen 80.000 und 100.000 Betreuungskräfte fehlen", sagt Stefanie Zollner-Rieder, Fachreferentin bei "Caritas rundum betreut". "Das österreichische Modell funktionierte bisher ganz gut - aber Corona hat uns gezeigt, dass es widerstandsfähiger gemacht werden muss."
Kurzfristige Krise, langfristige Trends
Deutschland hat einen der höchsten Anteile an über 65-Jährigen in der EU, und die relativ niedrige Geburtenrate (1,4 Kinder pro Frau) sowie eine hohe Lebenserwartung (ca. 79 Jahre für Männer und 83 Jahre für Frauen) werden diesen demografischen Trend in den kommenden Jahrzehnten noch verstärken. Die Frage nach der Finanzierung des immer größer werdenden Betreuungsbedarfs ist also dringend.
Der aktuelle Reformvorschlag, der voraussichtlich Maßnahmen zur Erhöhung der finanziellen Unterstützung für Pflegebedürftige enthalten wird, ist in Deutschland von besonderer politischer Relevanz, da der Wahlkampf zur Bundestagswahl im September bereits im Gange ist. Der Druck auf Gesundheitsminister Spahn, dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorzulegen, wächst also mit jedem Tag. Auch wenn es für die aktuelle Wahlperiode bereits zu spät sein könnte, bleibt Frederic Seebohm optimistisch, was die Wahrscheinlichkeit von Reformen in diesem Sektor angeht, da sich die Mehrheit der Parteien über die Notwendigkeit von Veränderungen einig ist.
Die Herausforderung der Finanzierung der wachsenden Nachfrage nach Betreuung ist mit der Frage verbunden, wie vermieden werden kann, dass noch mehr Pflegearbeit in die "Grauzone" verlagert wird und sich die Arbeitsbedingungen der Betreuungskräfte weiter verschlechtern.
Ein Werk der Liebe
Die Corona-Krise hat nicht nur die Zerbrechlichkeit des Pflegesektors ins Rampenlicht gerückt, sondern auch die Wichtigkeit der Betreuungsarbeit und die entscheidende Rolle der osteuropäischen Frauen, die diese Arbeit überwiegend übernehmen. Eine Reform in Deutschland könnte auch zu einer Wahrnehmung des Wertes der Altenpflege an sich führen.
"Ich arbeite mit ganzem Herzen. Es geht nicht nur um das Geld, zumal ich davon nicht allzu viel verdiene", erzählt Anna Tadrzak am Telefon. "Es kostet viel Kraft und Geduld, aber ich bin glücklich mit meiner Arbeit in Österreich, ich bin glücklich bei Caritas und mit meinem Beruf." Sie ist überrascht, dass sie von einer Journalistin angerufen wurde. "In 15 Jahren hat sich noch nie jemand für meine Arbeit interessiert."