Wenn man zur Rettung des Klimas Öl braucht
13. Juni 2021In jeder einzelnen Sekunde strömen riesige Mengen Kohlendioxid in die Atmosphäre. Hauptgrund dafür ist die Verbrennung fossiler Brennstoffe für Energie, Transport und die Stromerzeugung. Jährlich sind es fast 40 Gigatonnen (Gt) CO2.
Studien belegen, dass uns immer weniger Zeit bleibt, die globale Erwärmung einzudämmen - es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Um den "unkontrollierten Klimawandel" zu verhindern, soll eine Technologie helfen: Die Kohlendioxidabscheidung und -speicherung (CCS). Die gängige Abkürzung kommt aus dem Englischen und steht für Carbon Capture and Sequestration.
"Wir reden hier nicht von einer einzigen Wunderwaffe gegen den Klimawandel, sondern eher von einer unter vielen," so Sheldon Whitehouse, US-Abgeordneter der Demokratischen Partei. Er gehört zu den engagiertesten Umweltschützern im Senat in Washington. "Eine dieser Lösungen muss sein, CO2 wirklich entschlossen zu binden."
Weltweit laufen derzeit 26 CCS-Projekte. Zusammen können sie jedes Jahr rund 40 Millionen Tonnen Kohlendioxid aus der Atmosphäre holen und speichern. Dafür wird das Kohlendioxid in tiefe geologische Formationen geleitet oder in ehemalige Öl- und Gaslagerstätten gepumpt. Nach Angaben des Global CCS Institute, einer internationalen Organisation, die den Ausbau dieser Technologie fördert, befinden sich derzeit mehr als 40 weitere Projekte auf fast allen Kontinenten im Bau oder in fortgeschrittenen Planungsstadien.
Für Schlagzeilen sorgte die Studie "Netto Null bis 2050" der Internationalen Energieagentur IEA. Darin ist von CCS als eine der sieben Säulen die Rede, die helfen soll, bis Mitte des Jahrhunderts Klimaneutralität zu erreichen und die globale Erwärmung zu begrenzen. Darin heißt es, dass im Zuge des raschen Ausbaus emissionsfreier erneuerbarer Energien weltweit auch tausende von CCS-Anlagen errichtet werden müssen - mit einer möglichen Kapazität zur Verpressung von mehr als drei bis sieben Gt CO2 pro Jahr. Das wäre so, als würde man die heutige fossile Brennstoffindustrie rückwärtslaufen lassen.
Experten wie Michael Mann, Direktor des Earth System Science Center an der Pennsylvania State University und Autor des Buches "The New Climate War", befürchten, dass eine starke Konzentration auf CCS "nur unsere kollektive Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zum Vorteil der fossilen Brennstoffindustrie und zum kollektiven Nachteil unserer aller verlängern wird".
Mit CO2 mehr Öl produzieren
Schon seit Jahrzehnten sieht die Öl- und Gasindustrie in CCS die beste Lösung für die Umwelt. Die Idee geht zurück auf die Initiative "Clean Coal" - also "saubere Kohle" - des damaligen US-Präsidenten George W. Bush in den 2000er-Jahren. Die Befürworter argumentierten, dass Abgase fossiler Brennstoffe einfach gereinigt werden könnten. Rüste man Kraftwerke mit entsprechenden Abscheidetechnologien aus, könne man das, was aus ihren Schornsteinen kommt, auffangen und unter die Erde bringen.
Allerdings verwenden mehr als 80 Prozent der bestehenden CCS-Anlagen ihr abgeschiedenes und gespeichertes CO2 zur Ölförderung. Anstatt also dem Geschäftsmodell der Ölmultis das Wasser abzugraben, ermöglicht CCS ihnen, "an ihren Pfründen festzuhalten und sie weiter zu schröpfen", so Mann in einem E-Mail-Austausch mit der DW.
Hintergrund: Auch Jahrzehnte, nachdem sie erschlossen wurden, bergen die meisten Lagerstätten noch immer riesige Erdölvorkommen. Nur sind die meist schwer zu erreichen. Um dennoch an diese Ölvorräte heranzukommen, begann der US-Ölgigant Exxon in den 1970er-Jahren mit der Entwicklung von CO2-Injektionstechniken.
Pumpt man Kohlendioxid in eine Öllagerstätte, passieren mehrere Dinge, erläutert Manika Prasad das Prinzip, Professorin der Abteilung für Geophysik und Direktorin des Center for Rock & Fluid Multiphysics an der Colorado School of Mines: "Das Erdöl beginnt aufzuquellen, es nimmt an Volumen zu und verliert seine Viskosität." Das bedeutet, es wird weniger zähflüssig.
Das Einlagern von CO2 in solch erschöpfte Lagerstätten "erhöht den Druck" und treibt das verbliebene Öl auf diese Weise nach oben. Das ermöglicht wiederum eine höhere Öl-Förderung, so Prasad. Gleichzeitig bleibt der größte Teil des injizierten Kohlendioxids eingeschlossen und ersetzt das Öl, das zuvor an dieser Stelle eingelagert war.
Inzwischen werden solche Verfahren in der gesamten Branche angewendet. Diese Art der Ölgewinnung, die neben CCS auch "Enhanced Oil Recovery" oder EOR genannt wird, ermöglicht es den Öl- und Gaskonzernen, Millionen Tonnen Kohlendioxid zu binden.
Der US-Ölkonzern ExxonMobil beispielsweise bindet jedes Jahr mehr als neun Millionen Tonnen Kohlendioxid in tiefen unterirdischen Salzwasserspeichern und in den Bohrlöchern seiner Öl- und Gasförderung. Exxon hat nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 120 Millionen Tonnen Kohlendioxid gebunden und gilt damit als Vorreiter in Sachen CCS.
Aber die Herkunft des CO2 ist entscheidend. Oft wird übersehen, dass das meiste Kohlendioxid, das die Öl- und Gaskonzerne bei ihren EOR-Operationen verwenden, aus natürlich vorkommenden Reservoiren stammt und nicht aus vom Menschen gemachten Quellen. Mit anderen Worten: Die Unternehmen verwenden Kohlendioxid, der bereits "gebunden" wurde. In den USA werden laut einem IEA-Briefing 2019 mehr als 70 Prozent des für EOR verwendeten CO2 abgebaut und nicht der Atmosphäre entzogen.
"Diese Nutzung natürlicher Quellen bringt eindeutig keinen Vorteil in Bezug auf die Höhe der Emissionen durch das produzierte Öl", schreibt die Organisation.
Zwar variieren die Gegebenheiten von Lagerstätte zu Lagerstätte. Aber im Durchschnitt kann jede halbe Tonne Kohlendioxid, die durch EOR injiziert wird, ein weiteres Fass oder noch mehr Öl aus der Erde herauspressen. Doch Kohlendioxid abzuscheiden kostet viel Geld und macht das Gas teuer. Daher versuchen die Unternehmen, sparsam damit umzugehen. Also versuchen sie, die Menge, die sie in eine Ölquelle pumpen, zu minimieren. Die Folge: Die Emissionen eines auf diese Weise gewonnenen Öls können am Ende größer sein als das, was an abgeschiedenem Kohlendioxid verpresst wurde.
Die Deutsche Welle hat Exxon dazu um ein Statement gebeten. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels gab es keine Antwort.
Fragwürdige Klima-Rechnung
Vicki Hollub, Chefin von Occidental Petroleum, einem globalen Öl-, Gas- und Chemieproduzenten, gehört zu den lautstärksten Befürwortern von CCS in ihrer Branche. In einem Forum an der New Yorker Columbia University im März dieses Jahres versprach Hollub, das Unternehmen bis 2050 zu einer ausgeglichenen CO2-Bilanz zu führen. Dafür wolle sie in regionale Zentren für die CO2-Abscheidung investieren. Das Kohlendioxid soll direkt in die Ölförderstätten des Unternehmens injiziert werden.
Das "wird es uns ermöglichen, mehr Reserven herauszuholen, bei niedrigeren Emissionen und hilft Occidental, die Umwelt und das Klima zu schützen", so Hollub bei ihrem Auftritt im März.
Hollub fügte hinzu, dass die kürzlich verlängerten Steuererleichterungen der US-Regierung die Kosten für Kohlendioxidabscheidung senken würden. Diese Gelder könnten nun zur Steigerung der Ölproduktion genutzt werden, "was einen Mehrwert für unsere Aktionäre bedeutet."
Während die Industrie mehr und mehr auf die EOR-Produktion von "CO2-negativem" Öl setzt, werden gleichzeitig die seit langem bestehenden Bedenken gegen diese Technologien lauter.
"Auch wenn ein Teil des eingebrachten Kohlendioxyds in den Ölreservoirs verbleibt, kann die Berechnung der 'Netto-Null-Prognose' sehr knifflig sein", sagt Laura Singer, Programm-Managerin für das Colorado School of Mines Payne Center.
"Es gibt eine Menge Spielraum in diesen End-of-Production-Szenarien. Bei den Berechnungen handelt es sich nicht um Lebenszyklusanalysen, die alle vor- und nachgelagerten Emissionen berücksichtigen, sondern um engere Messungen, die sich auf die reine Produktion beziehen. Emissionen durch die spätere Verbrennung des Kraftstoffes werden außen vor gelassen. Bezieht man die ein, kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis", so Singer.
Behandlung der Symptome
Im Februar stellte ExxonMobil seine neue Strategie für kohlenstoffarme Lösungen vor. Das Unternehmen versprach, zwischen 2021 und 2025 fünf Prozent seines Budgets für CCS-Projekte auszugeben. Dennoch, so Domien Vangenechten, Politikberater beim Klima-Thinktank E3G, sei man skeptisch, wie ernst es der Öl- und Gasindustrie sei, ihre Emissionen wirklich anzugehen.
"Im Jahr 2019 machten CCS und erneuerbare Energien zusammen nur 0,9 Prozent der gesamten Investitionsausgaben in der Öl- und Gasindustrie aus", so Vangenechten.
CCS könnte nützlich sein, um die Emissionen von schwer zu dekarbonisierenden Industrien zu senken, meint Vangenechten, aber nur, wenn diese Emissionen geologisch gespeichert werden. Solche Branchen wären die Zement-, Beton-, Chemie- und Stahlindustrie. Zusammen sind diese für rund 12 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich. "CCS funktioniert nur sehr begrenzt im Stromsektor, während es in der Schwerindustrie durchaus eine Rolle spielen kann, insbesondere in der Zementindustrie, wo es weniger machbare Alternativen gibt", so Vangenechten.
"An und für sich ist die Kohlendioxidabscheidung und -speicherung, insbesondere wenn das CO2 zur Ölförderung verwendet wird, keine Lösung für die Klimakrise", sagt die Geophysik-Professorin Manika Prasad. "Mit CCS behandeln wir nur die Symptome. Wir packen das Problem damit nicht bei der Wurzel. Das nämlich würde bedeuten, dass wir weniger CO2 produzieren", betont Prasad.