Bremst weniger Wirtschaftswachstum die Klimakrise ab?
1. Oktober 2020Mitte des 20. Jahrhunderts – nach den beiden Weltkriegen und aufgrund des Wettstreits von Kapitalismus und Kommunismus um die Weltherrschaft – fing man an, den ökonomischen Erfolg anhand des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu messen.
Je schneller das BIP wuchs, als umso leistungsfähiger galt die Wirtschaft. Allerdings wuchs damit auch der Verbrauch an Energie und Ressourcen.
Schon mit der Industriellen Revolution begann ein wildes Wettrennen um eine immer größere Produktionssteigerung, angetrieben durch fossile Brennstoffe. Die Folgen: immer mehr Müll und Umweltverschmutzung. Der Anstieg der Treibhausgase entsprach dem Wachstum des BIP. Die Natur zahlt also den Preis für das Wirtschaftswachstum.
Und seit es immer schwieriger wird, die Klimakrise zu ignorieren, fragen sich immer mehr Menschen, ob ungebremstes Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen möglich ist.
Null-Emissionen bei doppeltem BIP
"Der zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen nennt in seinem fünften Sachstandsbericht 116 Minderungsszenarien, die es möglich machen sollen, unter der Schwelle von 2 Grad Celsius Erderwärmung zu bleiben. Alle diese Szenarien gehen von BIP-Wachstumsraten von zwei bis drei Prozent aus", sagt Jon Erickson. Der Wirtschaftsökologe am Gund Institute for Environment in Vermont fügt hinzu, dass dies eine Verdoppelung der Weltwirtschaft bis etwa 2050 zur Folge hätte.
Diese Szenarien basieren nicht allein auf einer Verlagerung auf erneuerbare Energien, sondern auf einer massiven Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre nach bislang unerprobten Technologien. Erickson bezeichnet das als "völlig unrealistisch."
"Keines dieser Modelle und auch nicht das IPPC machen sich die Mühe, ein Szenario zu simulieren, in dem die Weltwirtschaft schrumpft, stabil bleibt oder sogar zurückgeht", sagt Erickson. "Doch das ist wahrscheinlich das einzige realistische Szenario, das die Treibhausgasemissionen erheblich beeinflussen würde."
Es ist verständlich, warum es so schwer ist, die Idee vom permanenten Wachstum aufzugeben: Wenn die Konjunktur nachlässt und eine Rezession kommt, verlieren die Leute ihre Arbeit und stürzen in Armut. Die Anhänger, die sich für "Degrowth”, also eine Wachstumswende einsetzen, meinen aber, dass es auch anders geht: durch eine kontrollierte Schrumpfung der Wirtschaftsleistung.
Zeit für ein einen neuen Ansatz?
Federico Demaria ist Ökonom an der Autonomen Universität von Barcelona und hat mehrere Bücher über "Degrowth" verfasst. Er sagt, dass die neoklassische Wirtschaftslehre, die den Wirtschaftsdiskurs über Jahrzehnte dominierte, "nie die Frage gestellt hat, wie eine Wirtschaft ohne Wachstum aussehen kann. Es ging immer nur um Fragen wie: Warum wachsen Volkswirtschaften? Wenn sie nicht wachsen, wie kann man sie zum Wachsen bringen? Oder: "Wie können wir sie noch schneller wachsen lassen?"
Diese Fragen sind auch, oder vor allem, für wohlhabende Industriestaaten interessant, deren Wachstum sich in den vergangenen Jahrzehnten verlangsamt hat. Den etablierten Wirtschaftsexperten geht es nur darum, das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln, sagt Demaria.
Doch es gibt einen anderen Ansatz aus der ökologischen Wirtschaftslehre. Er zielt darauf ab, wirtschaftliches Wachstum zu zügeln, aber ohne den Schaden, den eine Rezession erfahrungsgemäß verursacht.
Die Wirtschaft als Teil der Ökologie
Neoklassische Wirtschaftsmodelle stellen Wirtschaftssysteme als geschlossen dar, ohne Material – oder Energieeinsatz – und ohne die Umweltverschmutzung und den entstandenen Müll zu berücksichtigen. Ökologische Wirtschaftsexperten bestehen jedoch darauf, dass es keine wirkliche Trennung zwischen Ökonomie und Ökologie gibt. Letztlich wird jede wirtschaftliche Aktivität auch ziemlich schnell zusammenbrechen, wenn wir den Planeten, der uns ernährt, zerstören.
Um dieses Problem zu beheben, arbeitet Demaria daran, neue ökonomische Modelle zu entwickeln, die auch Treibhausgas-Emissionen und Ressourcen berücksichtigen.
"Die Grundidee der ökologischen Makroökonomie ist, dass die Wirtschaft in die Umwelt eingebettet ist", sagt er. "Das zweite Problem ist, dass die neoklassischen Modelle nicht realistisch sind. Schauen Sie sich die Finanzkrise an; sie haben sie nicht kommen sehen, weil sie völlig unfähig waren, sie zu modellieren. Deshalb zeigen Zentralbanken zum Beispiel ein großes Interesse an ökologischer Makroökonomie."
"Degrowth" versus "grünes Wachstum"
Doch gängige Organisationen, die sich auch mit Umweltschutz befassen, sind immer noch fest verbunden mit der Idee von "grünem Wachstum."
IPPC, Weltbank, OECD , aber auch unzählige Thinktanks und Regierungen vertrauen darauf, dass wir in der Lage sind, Wachstum von seiner ökologischen Wirkung zu "entkoppeln.” Und einige Volkswirtschaften – auch Deutschland – sind gewachsen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Emissionen.
Viele wissenschaftliche Arbeiten widmen sich der heftigen Debatte, ob diese Fälle eine wirkliche Veränderung darstellen oder nur eine zufällige Verbindung zwischen Wachstum, Emissionen und Ressourcenverwendung sind.
Anhänger der "Degrowth"-Bewegung argumentieren bis heute, dass die Entkoppelung von Ökonomie und Ökologie nur in reichen Volkswirtschaften stattgefunden hat. Diese Staaten haben Bereiche wie die Fertigung, die viele Treibhausgase produzieren, ausgelagert. Sie sagen, dass die Wechselbeziehung weltweit weiterhin stark ist.
Schaut man sich die IPCC-Szenarien an, beruht das Hauptargument für "grünes Wachstum" auf der Annahme, dass der technologische Fortschritt die Rettung bringt: Recycling, der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien. Die Verfechter von "grünem Wachstum" erhoffen sich, dass die Wirtschaft weiterwachsen kann, ohne dass der Planet zerstört wird – also weiter Nahrung und ein stabiles Klima liefern kann.
Effizienz und größerer Energieverbrauch
Doch technologischer Fortschritt führt nicht immer zum gewünschten Ergebnis.
Als im 19. Jahrhundert neue Motoren eingeführt wurden, die weniger Kohle benötigten, um dieselbe Energiemenge zu erzeugen, ging der Kohleverbrauch nicht zurück. Stattdessen vergrößerten sich durch die Effizienz auch die Gewinne. Das machte die Produkte billiger und trieb die Nachfrage in die Höhe, das heißt der Kohleverbrauch nahm sogar zu.
Dieser Trend – genannt Jevons-Paradoxon – hat sich fortgesetzt. Das bedeutet, dass Effizienz tendenziell mit einem Rebound-Effekt einhergeht, der alle tatsächlichen Energieeinsparungen zunichtemacht.
Ähnliche Effekte sind beim Ressourcenverbrauch und sogar bei der Arbeit zu beobachten. Denn die Automatisierung von Prozessen hat zur Steigerung des Verbrauchs und der Produktion beigetragen – anstatt mehr Freizeit für die Beschäftigten zu bewirken.
In einem System, das auf unbegrenzte Expansion ausgerichtet ist, werden Gelegenheiten, den Gürtel enger zu schnallen, in der Regel als Möglichkeit genutzt, um noch größer zu werden.
Aber "Degrowth"-Unterstützer argumentieren, dass wir den Gürtel in der Tat enger schnallen müssen – und das muss nicht schmerzhaft sein. Wenn wir die zentrale Logik von Wirtschaftssystemen umkehren könnten, die Wachstum über menschliches und ökologisches Wohlergehen stellen, wären die Weichen gestellt für eine Welt, die ohne "Must-have”-Produkte und materiellen Reichtum auskommt.
Dieser Artikel ist Teil unserer Reihe Wie machen wir es anders? Klicken Sie hier, um mehr Ideen über ein sich wandelndes Verständnis der Klimakrise zu erhalten.