Kolonialismus: Über den Umgang mit menschlichen Überresten
12. März 2024"Schutzgebiete" nannte Deutschland einst euphemistisch seine Kolonien, die es von 1884 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu seinem "Besitz" zählte. Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden zählte Deutschland zwar nicht zu den kolonialen Großmächten, doch der Umgang mit den Kolonien in Afrika, Ozeanien und Asien war alles andere als zimperlich. Davon zeugen die vielen menschlichen Überreste, die sich bis heute in den Sammlungen deutscher Museen und Universitäten befinden.
"Subjekte" heißen sie im Museumsjargon. Das soll Respekt und Achtung vor den Menschen ausdrücken, die in der Kolonialzeit geraubt und nach Deutschland verschleppt wurden und deren Gebeine bis heute in den Kellern und Depots lagern.
Kolonialisten verübten grausame Verbrechen
Viele Schädel und Knochen stammen von Hingerichteten. Sie wurden abgetrennt, gereinigt und als wissenschaftliche Forschungsobjekte nach Deutschland geschickt. Allein die Charité, das Berliner Universitätskrankenhaus, bewahrt in ihren Depots einen Bestand von 106 solcher "Human Remains" auf. Sie stammen aus Afrika, Ozeanien, Asien und Nordamerika. Immer mehr werden nun im Rahmen der Provenienzforschung näher untersucht und ihre Herkunft dokumentiert.
Zwischen 2011 und 2019 kam es im Rahmen dieser Untersuchungen allerdings nur zu neun Rückgaben, wie das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité der DW auf Anfrage mitteilte. Während andere Museen ihre Exponate aus kolonialen Kontexten teilweise im Internet dokumentieren, bleiben die Depots der Berliner Charité eine Black Box. "Wir stellen keine Fotos zur Verfügung, solange wir nicht wissen, woher die einzelnen menschlichen Überreste stammen", so Mitarbeiterin Judith Hahn gegenüber der DW.
Berlin galt als Hauptstadt der "Schädelsammler"
Genau das ist der Punkt: Wie kamen die "Subjekte" nach Berlin? Die deutsche Hauptstadt wurde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zum Zentrum der anthropologischen Forschung, "einfach auch, weil hier einige der verrücktesten Sammler gearbeitet haben", sagt Andreas Eckert, Afrikanist und Professor an der Humboldt-Universität, im DW-Interview. Die Wissenschaftler Rudolf Virchow und Felix von Luschan untersuchten die Überreste in Berlin, um daraus Schlüsse für ihre "Rassenkunde" zu ziehen.
"Es gab Bestelllisten: Wenn klar war, dass jemand in die Region geht, zum Beispiel nach Deutsch-Südwestafrika (heute: Namibia), bekam er einen Auftrag", sagt Eckert. Diese Anforderungen ähnelten einem Einkaufszettel für den Supermarkt - mit konkreten Mengenangaben. Ganz oben auf der Liste: Schädel. "Sie waren die am meisten nachgefragten Körperteile", so Eckert.
Anhand der Kopfgröße wollten die deutschen Wissenschaftler nachweisen, dass Menschen außereuropäischer Herkunft einer minderwertigen "Rasse" angehörten. Afrika, aber auch andere außereuropäische Kontinente, galten als "terra nullius", als Niemandsland. Die abstruse Vorstellung von einem geschichtslosen Kontinent Afrika entstand im 17. Jahrhundert mit dem Beginn der Sklaverei und änderte sich über die Jahrzehnte kaum. Selbst ein großer deutscher Dichter wie Friedrich Wilhelm Schiller sprach 1789 in seiner Antrittsrede an der Universität Jena pauschal von "unzivilisierten" Gebieten außerhalb Europas.
Afrika-Klischee vom Elendsort hält sich bis heute
"Manche rangen noch mit wilden Tieren um Speise und Wohnung, bei vielen hatte sich die Sprache noch kaum von tierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben", formulierte er abfällig. Dass Afrika ein Kontinent mit rund 2000 Sprachen und unzähligen Völkern ist, die sich enorm voneinander unterscheiden, wurde ignoriert. Von den Hochkulturen, die Jahrtausende vor ihm auf fernen Kontinenten gelebt und beeindruckende Zeugnisse hinterlassen hatten, wollte Schiller - wie so viele andere - nichts wissen. Jahrhundertelang setzte sich diese Sichtweise fort: "Es herrschte die Vorstellung, dass die Kulturen minderwertig seien und die Sklaverei sie aus noch schlimmeren Verhältnissen befreien würde", erklärt Eckert gegenüber der DW.
Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel schrieb noch Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner berühmten Abhandlung über den afrikanischen Kontinent: "Afrika ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und keine Entwicklung vorzuweisen." Vor diesem Hintergrund sei es den Kolonialherren nicht schwergefallen, "ständig neues Material" aus den besetzten Gebieten in die Hauptstadt zu schaffen, so Eckert. Aber: Wie kann dieses dunkle Erbe nun zurückgegeben werden - und ist das überhaupt wünschenswert?
Restitution eines düsteren Erbes der Kolonialzeit
"Proaktiv" nennt Judith Hahn vom Berliner Medizinhistorischen Museum das Vorgehen der Charité. Bereits 2010 habe man mit anthropologischen Untersuchungen der Schädel begonnen, um Alter, Geschlecht und Krankheiten zu ermitteln. Doch mehr als hundert Jahre nach dem Raub ist es fast unmöglich, die Herkunft der "Probanden" zu bestimmen und sie einem Individuum zuzuordnen.
Fast die Hälfte der menschlichen Überreste (46 Prozent) kann geografisch nicht zugeordnet werden. Von den Überresten, deren Herkunft bekannt ist, stammt die Mehrheit (71 Prozent) aus Afrika und Ozeanien. Die von der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten durchgeführte Erhebung soll als Ausgangspunkt für die weitere Erforschung und Rückgabe menschlicher Überreste dienen.
Wie schwierig diese Rückgabe ist, macht Eckert am Beispiel der Erforschung der Schädelsammlung des österreichischen Anthropologen und Ethnologen Felix von Luschan deutlich. Er arbeitete ab 1885 am Berliner Völkerkundemuseum und begann, die sogenannte "S-Sammlung" anzulegen: 6500 Schädel aus der ganzen Welt, auch aus ehemaligen deutschen Kolonialländern, die sich ab 1948 in der Obhut der Charité befanden.
Je mehr Material, desto bessere Daten, war wohl seine These. Vermutlich häufte er deswegen diese Menge an Schädeln an. "Es gab eine Reihe von Schädeln, an denen ein Zettel hing, auf dem Tansania stand. Den Ländernamen gibt es aber erst seit 1964, also muss das Schild in der damaligen DDR beschriftet worden sein. Und am Ende stellte sich heraus, dass viele dieser Schädel eigentlich aus Deutsch-Ostafrika, also dem heutigen Ruanda, stammen."
Schwierige Erforschung der Herkunft der Luschan-Sammlung
Vermerke wurden offenbar gezielt gefälscht, um damit Geld zu verdienen - etwa weil von Luschan Schädel einer gewissen Ethnie angefordert hatte und dafür mehr bezahlte als für andere. Dass die Sammlung überhaupt existiert, wusste jahrzehntelang kaum jemand, sie galt als zerstört. Schließlich entdeckte man sie im desaströsen Zustand in den Kellern der Charité.
Nicht nur der Afrikanist Andreas Eckert vermutet noch weit mehr menschliche Überreste in Deutschlands Institutionen. "Man geht von etwa 20.000 Gebeinen aus. Dazu kommen noch die, die unterwegs im Laufe der Zeit verschüttet worden sind. Da kann man sich ein bisschen vorstellen, wie in relativ kurzer Zeit Unmengen von diesen Gebeinen hier nach Deutschland gebracht worden sind." Zusätzlich zur Schwierigkeit, die genaue Provenienz zu bestimmen, käme noch ein weiteres Problem, so Andeas Eckert. "In manchen Regionen gibt es Menschen, die sich beschweren und sagen: 'Ihr wollt das Zeug jetzt wieder loswerden, aber wir wollen das alles gar nicht unbedingt'." Manche befürchteten sogar, dass ein "Bad Spirit", ein schlechter Geist, zurückkäme, der an die dunklen Tage der Kolonialzeit erinnerte.