Nackt in Berlin
10. September 2017Am Anfang muss ich die wildesten Phantasien ein bisschen in ruhigere Bahnen lenken: Nackt in Berlin heißt nicht automatisch Sex in Berlin! Aber Weiterlesen lohnt sich trotzdem. Denn es gibt fließende Übergänge. Auch in dieser Kolumne.
Oben ohne?
Nähern wir uns dem Thema also möglichst interkulturell an. Auch, um den vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington befürchteten "cultural clash", also den Kampf der Kulturen, zu vermeiden. Denn die Leser von Berlin 24/7 kommen ja aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen.
"Oben Ohne" ist doch schon mal ein sanfter Anfang, oder? So nennt sich ein Festival mitten in Berlin. Mit coolen Summer-Sounds von Musikern des British and Irish Modern Music Institute, im SkyLivecCub hoch über den Dächern der Stadt. Aber was für ein fake: "Oben ohne" ist da gar keiner. Das einzige, was "ohne" ist, ist die Dachterrasse. Nämlich ohne Dach.
Nacktwahlkampf
Dass es in Berlin mal soweit kommen würde, dass ausgerechnet die Politik die Glaubwürdigkeitslücke beim Thema "Nacktheit" schließt – das hätte ich mir nie träumen lassen.
Wie auch immer: Tim Renner, Berlins ehemaliger Kulturstaatssekretär und nun SPD-Kandidat für den Bundestag, lässt fürs Vaterland die Hüllen fallen. Ausgerechnet im prüden Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf. Der nackte Tim präsentiert sich seinen Wählern im Video. Okay, die Redewendung, dass Politiker am Ende einer Legislaturperiode nackt vor ihren Wählern stehen, weil aus ihren Wahlversprechen nichts wurde, kennt man - das ist aber nur ein Bild. Aber das hier ist kein Eingeständnis, sondern eine Drohung. Renner will damit nach eigenen Worten die Wechselwähler überzeugen. Jeden einzeln oder lieber in der Gruppe? Und was sagt eigentlich Frau Renner dazu?
Auch der Altstar der Partei "Die Linken", Gregor Gysi, möchte das Nackt-Thema zum Wahlkampfschlager machen. Der 69-Jährige setzt sich für den Erhalt der FKK-Kultur ein. Die in Berlin erscheinende Zeitung "B.Z." zieht messerscharf das Fazit: "Nacktwahlkampf – das ist gerade der Renner."
Merkels Machttrick
Ich sage nur: Nicht auszudenken, wenn das die Bundeskanzlerin jetzt gegen Ende des Wahlkampfs mitkriegt. Wir kennen ja inzwischen alle Merkels Macht-Trick, ihren politischen Gegnern die Erfolgs-Themen zu entreißen und sie zu ihren eigenen zu machen: Das war beim Atomausstieg so und auch beim Mindestlohn. Und jetzt….?
Wechseln wir lieber den Schauplatz und werden wir wieder politikfrei. Anders als Gregor Gysi Glauben macht, ist Berlin für Nackte ein heißes Pflaster. Wer könnte das deutlicher verkörpern als neulich der Nudist in der U-Bahn: Hüllen- und wortlos drehte er in der U4 und U1 eine Runde. Und wer lieber nackt badet als nackt Bahn fährt, findet im Netz Listen mit den besten Stränden: etwa "nacktbaden.de" oder "11 Orte zum Nacktbaden -Mit Vergnügen Berlin". Vom Wannsee bis zum stadtnahen Halensee – gut einsehbar zwischen Autobahnring und S-Bahn - kann man sich dem Vergnügen hingeben, blanke Haut zu zeigen. Und wenn es ein bisschen mehr Vergnügen sein darf, dem wird der "Bullenwinkel" am Grunewaldsee empfohlen. Kann Nacktsein aufregender sein? Ja!
Pornceptual und Berghain
Zum Beispiel im Technoclub Berghain. Da tanzt man unversehens mit einem gut gebauten Nackten, der sich plötzlich aus dem Gewühl des Dancefloors herauslöst hat.
Vielleicht sind das ja die Spätfolgen oder Nebenwirkungen des Freikörperkultes in der verflossenen DDR. Oder die Wiedergänger der wilden 20er Jahre: Es gibt wohl keine andere deutsche Stadt mit soviel Nacktsein im Nachtleben. Deshalb konstatiere ich: Berlin ist das Eldorado der Nackten. Oder vielleicht doch ihr Sodom und Gomorra? Für manche sind das jedenfalls paradiesische Plätze. Für jene, die nach Mitternacht Schlange stehen für eine Party wie die "Pornceptual". Deren Mantra ist: Lebe deine Körperlichkeit frei aus. Viele Berliner brauchen diese Aufmunterung gar nicht: Sie sind dabei, wenn nackte Haut und heiße Beats rufen. Es ist so, als würde sich eine verschworene Gemeinschaft zum verbotenen Ritus treffen. Leder, Fetisch oder noch weniger: Alles geht.
"Berlin ist die Hauptstadt der Freiheit", heißt seit März die neue Kampagne des Berliner Hauptstadt-Marketings. Deren Strategen wissen nicht, wie recht sie haben.