Im Moment sieht alles danach aus, dass eine der blutrünstigsten Terrorgruppen der Welt kurz vor der militärischen Niederlage steht und sich lediglich letzte Rückzugsgefechte mit den Armeen der betroffenen Länder - Nigeria und seinen Nachbarn Tschad, Kamerun und Niger - liefert. Eigentlich kaum zu glauben nach sechs Jahren weitgehend erfolglosem Herumlavierens der nigerianischen Streitkräfte.
Erfolgsmeldungen des nigerianischen Militärs muss man jedoch mit Skepsis begegnen. Zu oft haben deren Sprecher schon den Sieg über Boko Haram oder die Befreiung von Geiseln verkündet, ohne dass davon am Ende viel mehr übrig blieb als heiße Luft.
Auch jetzt müssen wir abwarten, was die kommenden Tage an weiteren Informationen bringen: Sind wirklich so viele Frauen und Mädchen befreit worden? Handelt es sich dabei tatsächlich um entführte Personen? Sind darunter gar einige der Mädchen aus Chibok? Oder sind es vielleicht doch nur die Ehefrauen und Kinder der Terroristen? Unklar ist außerdem, ob die nigerianischen Sicherheitskräfte dauerhaft die Kontrolle über die befreiten Gebiete halten können.
Terror made in Nigeria
Die Entwicklung der letzten Wochen erhärtet den Verdacht, dass Boko Haram hauptsächlich ein aus politischem Interesse befeuertes lokales Phänomen ist. Die Erfolge der Terroristen in den vergangen Jahren lassen sich nämlich vor allem mit zwei Entwicklungen erklären.
Erstens: Die nigerianische Armee und ihre Führung sowie die Politik in Abuja haben die Gefahr und das Morden im verarmten Nordosten Nigerias jahrelang nicht ernst genommen. Die Milliarden, die in die Streitkräfte fließen sollten, haben sie deshalb lieber in andere Kanäle gelenkt - auf Kosten der einfachen Soldaten und hunderttausender Bürger, die entweder ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Heimat verloren haben.
Erst als die politische und militärische Elite erkannte, dass das Versagen gegen Boko Haram ihre Wiederwahl und damit ihren Zugang zu den Reichtümern des Landes gefährden könnte, handelte sie. Dabei war es eigentlich schon fünf nach zwölf - also musste die Wahl verschoben werden. In nur sechs Wochen drängten die Armeen der betroffenen Länder die Terroristen so weit zurück, dass diese nicht einmal mehr in der Lage waren, die Wahlen in ihrer Herkunftsregion nennenswert zu stören. Zu spät, denn die Wähler wählten trotzdem lieber die Opposition.
Buharis Sieg - Boko Harams Ende?
Zweitens deutet die plötzliche Hilflosigkeit der noch vor kurzem so gefürchteten Terrorgruppe darauf hin, dass ihnen die Ressourcen ausgehen. Ihre zuletzt hochmoderne Ausrüstung konnte Boko Haram nicht alleine durch die Plünderung von Bankfilialen in den von ihnen eroberten Gebieten sowie Lösegelder mittels gelegentlicher Geiselnahmen finanzieren.
Über nennenswerte finanzielle Zuflüsse aus internationalen Netzwerken gibt es bisher keine überzeugenden Nachweise. Die Unterstützung für Boko Haram muss zum größten Teil aus Nigeria selbst erfolgt sein. Die nigerianischen Eliten haben in der Vergangenheit immer wieder militante Gruppen instrumentalisiert und aufgerüstet, um ihre jeweiligen Machtinteressen durchzusetzen - sei es im Niger-Delta oder auch in anderen Regionen Nordnigerias.
Der zeitliche Zusammenhang des Aufstiegs von Boko Haram zu einer Terror-Armee, die das ganze Land in Atem hält, und dem Amtsantritt von Goodluck Jonathan 2010 war kein Zufall. Teile der nordnigerianischen Elite hatten schon kurz nach dem Tod des muslimischen Präsidenten Umaru Musa Yar'Adua gedroht, Nigeria unregierbar zu machen, sollte die Regierungspartei PDP mit Jonathan in den Wahlkampf 2011 ziehen. Dass nigerianische Politstrategen nicht zögern, über Tausende von Leichen zu gehen, wenn es ihren Interessen dient, haben sie in der Vergangenheit wiederholt bewiesen. Nun ist Jonathan abgewählt und von Boko Haram ist fast nichts mehr zu hören - Zufall?
Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass der gewählte Präsident Muhammadu Buhari mit den Finanziers von Boko Haram unter einer Decke stecken könnte. Er hatte sich von den korrupten Hintermännern der nordnigerianischen Politik immer ferngehalten. Trotzdem dürften diese Hintermänner jetzt die Hoffnung hegen, unter einem muslimischen Präsidenten Buhari wieder mehr Einfluss zu genießen als unter Jonathan. Ob Buhari die Macht besitzen wird, die Netzwerke hinter dem Terror auszuschalten oder gar offen zu legen, ist zu bezweifeln. Im günstigsten Falle geben sie jetzt Ruhe und entziehen dem Terror ihre Unterstützung. Und von Boko Haram bleiben - wenn überhaupt - kleine Trupps marodierender Räuber übrig, wie es sie auch in anderen Landesteilen Nigerias gibt.