Kommentar: Das Phantom ist gefasst
14. Dezember 2003
Das letzte Mal trat er offiziell Ende April in Bagdad auf - bevor die irakische Hauptstadt von den US-Truppen eingenommen wurde. Seitdem entwickelte sich Saddam Hussein immer mehr zu einem Phantom: Der gestürzte Diktator wurde einmal totgesagt, dann kursierten wieder Kassetten mit Durchhalte-Aufrufen von ihm und man sagte ihm nach, dass er den Widerstand gegen die Besatzer organisiere. Andere wieder hielten es gar für möglich, dass Saddam sich längst in den USA befinde und dass sein "Abgang" ein abgekartetes Spiel mit Washington gewesen sei.
Mit solchen Spekulationen wird nun Schluss sein. Zumindest für all jene, die nicht ohnehin alles bezweifeln, was aus Washington und den Reihen der "Koalition" kommt: Das "Phantom" ist gefasst. Saddam ist in seiner Heimatstadt Tikrit gefasst worden. Mit falschem Bart und gar nicht der Held, als der er sich so gerne präsentierte. Vor allem aber: Saddam lebt.
Unmissverständliches Zeichen
Dass der Ex-Diktator lebend gefasst wurde, dürfte ein wichtiges Signal für die Zukunft des Irak sein: Erst vor wenigen Tagen wurde die Einsetzung eines irakischen Kriegsverbrecher-Tribunals angekündigt und dieses Gericht dürfte in den frühen Morgenstunden (14.12.) seinen wichtigsten Angeklagten geliefert bekommen zu haben.
Wie kein anderer trägt Saddam Hussein die Verantwortung für all die Verbrechen, die seit den Sechziger Jahren an der irakischen Bevölkerung und gegenüber den Nachbarn verübt wurden. Und es stand in letzter Zeit immer mehr fest, dass der flüchtige Saddam Hussein zwar wahrscheinlich nicht für alle Angriffe auf die amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten verantwortlich war, dass die Bereitschaft der Iraker, mit diesen zusammen zu arbeiten, aber mit jedem Tag sank, an dem Saddam nicht gefasst war.
Es wäre sicher voreilig und unrealistisch, nun das völlige Zusammenbrechen des irakischen Widerstandes zu erwarten. Aber die Festnahme Saddams und seine klare Identifizierung werden doch für viele Anhänger des Diktators ein unmissverständliches Zeichen sein, dass sie nicht wieder an die Macht zurückkehren werden und dass es jetzt besser ist, abzutauchen und sich nicht länger einem Kampf zu verschreiben, den sie nicht gewinnen können.
Wichtiger Fortschritt
Und in der Bevölkerung wird diese Erkenntnis die Furcht verdrängen, dass ein auch nur vorsichtiges Zusammenarbeiten mit den Amerikanern oder dem von diesen eingesetzten Regierungsrat als "Kollaboration" bestraft würde, wenn Saddam vielleicht doch eines Tages zurückkehren sollte.
Diese Gefahr ist nun beseitigt und der Irak kann daran gehen, gemeinsam an einer friedlicheren und besseren Zukunft zu arbeiten. Grundsätzlich sind die Weichen für das weitere Vorgehen bereits gestellt. Nachdem Saddam ausgeschaltet ist, dürften diese Pläne aber mehr an Gewicht gewinnen. Nicht aus eigenem Antrieb und eigener Kraft zwar, sondern mit Hilfe der Amerikaner: In der Nacht zum Sonntag (14.12.) hat der Irak vielleicht den wichtigsten Fortschritt in seiner neueren Geschichte erlebt. Er wird seine Zeit brauchen, sich daran zu gewöhnen.