Das Warten hat ein Ende. Endlich sehen Briten wie Kontinentaleuropäer etwas klarer, wie der Ausstieg Großbritanniens aus der EU aussehen soll. Das an sich ist schon ein Fortschritt. Allzu lange hatten sich viele Leute Hoffnungen auf alles mögliche gemacht, sogar darauf, den Brexit durch ein neues Referendum rückgängig machen zu können.
In den vergangenen Monaten ging es vor allem darum, ob die Briten trotz eines EU-Ausstiegs im Binnenmarkt bleiben können. Die Antwort der EU lautete eindeutig: nein! Nach dem Motto: keine Rosinenpickerei - entweder ganz drin oder gar nicht. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte sogar vor dem Referendum die böse Warnung ausgesprochen: "Deserteure werden nicht mit offenen Armen empfangen!"
Mit Schadenfreude schadet sich die EU selbst
Noch immer schwingt in vielen Äußerungen aus Brüssel zum Brexit Schadenfreude mit, wenn zum Beispiel vom fallenden Pfund-Kurs die Rede ist, und auch der Wunsch, Großbritannien zu bestrafen. Damit sollen nicht zuletzt die verbleibenden 27 Mitglieder diszipliniert werden. Aber damit verstärkt die EU eher die Europaskepsis, und sie schadet sich auch wirtschaftlich selbst. Gerade deutsche Exporteure müssen ein Interesse daran haben, den Zugang zum britischen Markt möglichst ohne Handelsbarrieren zu erhalten - er ist einer ihrer wichtigsten weltweit. Jedes fünfte exportierte deutsche Auto geht zum Beispiel dorthin.
Jetzt sehen sich die Briten gezwungen, neue Wege einzuschlagen - und sie gehen in die Offensive. Den Binnenmarkt wollen sie verlassen und der EU ein Freihandelsabkommen anbieten, das möglichst viel vom bisherigen Binnenmarktzugang erhalten soll. Aus Mays Rede spricht ein gewisser Trotz und Stolz. Großbritannien will kein Bittsteller in Brüssel sein. Stattdessen will es sich der ganzen Welt öffnen. Passenderweise hat der künftige US-Präsident und Brexit-Freund Donald Trump London bereits ein bilaterales Handelsabkommen in Aussicht gestellt. Wenn man sich die unendlichen Schwierigkeiten ansieht, die die Europäische Union gerade beim Aushandeln von internationalen Handelsverträgen hat, scheint es durchaus denkbar, dass auch andere Drittstaaten wie China oder Brasilien separate Abkommen mit Großbritannien schließen werden.
Die wenigsten Briten haben das so gewollt. Diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben, wollten vor allem die Migration kontrollieren. Und im Gegensatz zur landläufigen Meinung in Deutschland geht es dabei nicht nur um bisherige, sondern auch um künftige EU-Bürger. Der frühere Premierminister Cameron wurde vor dem Referendum immer wieder in Interviews gefragt, wie er verhindern wolle, dass sich hunderttausende Migranten, die Deutschland in den nächsten Jahren einbürgern werde, am Ende in Großbritannien niederlassen würden, ohne dass London darauf einen Einfluss habe. Er hatte keine Antwort darauf. Angela Merkels Politik der unkontrollierten Einwanderung dürfte die entscheidenden wenigen Prozente geliefert haben, die dann den Ausschlag zugunsten des Brexit gaben.
Nicht Druck, nur Attraktivität hilft
Doch das Votum ist nun einmal gefallen. Nachdenken in Berlin und in Brüssel ist trotzdem angebracht. Aus Junckers Warnung vor der Fahnenflucht sprach auch Fassungslosigkeit, wie man nur auf die Idee kommen könne, der schönen, vertrauten Brüsseler Welt den Rücken zu kehren. In dieser Welt kamen Selbstzweifel nicht vor. Der britische Ausstieg stellt die EU, wie sie bisher war, massiv infrage. Doch das ist nicht gefährlich, sondern gesund. Die europäische Idee ist ein phantastisches Projekt. Aber diese Idee erhält sich nicht durch Druck und Strafen, sondern nur durch ihre eigene Attraktivität.
Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!