Der Hass gegen uns Juden war nie weg
Bei der ersten Nachricht über den vereitelten Angriff auf eine Synagoge in Deutschland musste ich an die Worte von Martin Luther King Jr. denken: "Ungerechtigkeit irgendwo ist eine Bedrohung für die Justiz überall... Was nur einen direkt betrifft, betrifft alle indirekt." Ebenso bedroht der Antisemitismus die Religionsfreiheit aller Menschen - unabhängig von ihrem Glauben. Und doch ist das Wiederaufleben des Judenhasses weltweit auf weitgehend taube Ohren gestoßen.
Juden, die nicht mit einer Kippa oder dem Davidstern herumlaufen, können das volle Ausmaß des Problems auch nicht erkennen. Vor wenigen Wochen wurden in Berlin jüdische Kinder in Schulen gemobbt und ein Rabbiner auf der Straße angegriffen - und zwölf Juden wurden im vergangenen Jahr bei zwei bewaffneten Überfällen auf Synagogen in meinem Heimatland, den USA, ermordet. Dennoch war ich versucht, wie viele andere auch, das alles als schreckliche, aber isolierte Einzelfälle abzutun. Weil ich, eine Jüdin, die nicht sofort als solche erkennbar ist, mich in meinem Alltag sicher gefühlt habe.
Aber nach Halle muss ich zugeben: Ich habe mich geirrt!
Unwissen erzeugt Vorurteile
Bereits im Jahr 2017 fühlten sich 78 Prozent der Juden in Deutschland zunehmend bedroht. Und die Zahl der Angriffe auf Juden in Deutschland stieg von 2017 auf 2018 noch einmal um zehn Prozent auf 1.646 Vorfälle. Aber auch schon in der Zeit zuvor hat es wiederholt Angriffe auf Synagogen in Deutschland gegeben. Der Antisemitismus war nie ganz verschwunden.
Im Jahr 2013 beteiligte ich mich als Gast an der Ausstellung "Die ganze Wahrheit: Alles was Sie schon immer über Juden wissen wollten" des Jüdischen Museums Berlin. In dieser ungewöhnlichen Schau saßen immer mehrere Juden in einer offenen Vitrine und beantworteten Fragen der Besucher.
Dabei lernte ich, wie wenig die Menschen über uns Juden wissen. Ich wurde zum Beispiel gefragt, ob ich beschnitten sei (Ich bin eine Frau, also nein); andere forderten, dass ich die Politik Israels aus der Religion heraus erkläre (Ich bin Jüdin, keine Bürgerin Israels oder Expertin für diesen Staat).
Obwohl der Holocaust 1945 endete, wurden das Unwissen über Juden und die abstoßenden Einstellungen, die den Judenhass bedingen, an die nächsten Generationen weitergegeben. Im Jahr 2017 hatten mehr als die Hälfte der befragten deutschen 14- bis 16-Jährigen keine Ahnung, was in Auschwitz geschah. Fast jeder siebte Erwachsene war ebenfalls nicht in der Lage zu sagen, was Auschwitz war oder was dort geschah. Die Holocaust-Leugnung ist in Deutschland zwar ein Verbrechen. Aber das Land hat es versäumt, alle, die hier leben, angemessen über die Schrecken der Vergangenheit aufzuklären.
Deutschlands historische Pflicht
Erst im März dieses Jahres hat das Land Berlin den ersten staatlichen Plan zur Bekämpfung von Antisemitismus verabschiedet. Was ist mit dem Rest der Bundesländer und der Bundesregierung? Die Bundesregierung brauchte fast 80 Jahre, um einen Antisemitismusbeauftragten zu ernennen - und als 2018 endlich einer ernannt wurde, war es kein Jude. Respekt vor Felix Klein, der über umfangreiche Erfahrungen mit jüdischen Gemeinden im In- und Ausland verfügt – aber wie soll ein Mensch ohne die spezifische Erfahrung, als Jude in Deutschland zu leben, die Bedrohungen erkennen, denen Juden jeden Tag ausgesetzt sind? Im Mai warnte er, dass Juden keine religiösen Symbole wie Kippas in der Öffentlichkeit tragen sollten. Soll das hilfreich sein? Und soll das so bleiben?
Religiöse Intoleranz - egal, ob als Antisemitismus, Islamophobie oder in anderer Form - wird erst dann ausgerottet sein, wenn jeder Einzelne in Deutschland weiß, warum sie inakzeptabel ist und zu welchem Völkermord sie geführt hat. Deutschland muss aufgrund seiner Geschichte in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle übernehmen. Der Massenmord an Millionen von Juden und vielen anderen Gruppen ist genauestens dokumentiert. Wenn jemand diese unbestreitbaren Tatsachen nicht kennt, müssen wir uns alle dafür schämen, dass wir die jüngeren Generationen nicht ausreichend darüber aufgeklärt haben.
Nach Halle
Die Bedeutung von Jom Kippur kann kaum überschätzt werden. Auch säkulare Juden begehen diesen Tag feierlich. Wir überlegen, wen wir im vergangenen Jahr verletzt haben, wie wir Wiedergutmachung leisten können. Dieses Jahr habe ich das Fest damit verbracht, über einen Angriff zu berichten, der mich bis ins Mark erschüttert. Als jüdische Eltern sind wir angehalten, unseren Kindern zu helfen, unseren Glauben, unsere Traditionen und unsere Geschichte zu verstehen - und sie in die Synagoge als Lernort mitzunehmen. Zum ersten Mal hatte ich am Mittwoch Angst, genau das zu tun.