Die Bilder des Jahres
Selten wird bei Redaktionskonferenzen so intensiv über ein Bild diskutiert wie am 2. und 3. September. Das war nicht nur bei der Deutschen Welle so, sondern auch bei vielen anderen Medien. Am Ende kannte die ganze Welt den kleinen Aylan Kurdi, der - gerade dreijährig - beim Versuch, mit einem Schlauchboot nach Kos überzusetzen, vor der türkischen Küste ertrank.
Ein Bild, das Emotionen auslöste
Der Tod des kleinen Aylan sei eine Schande, Europa müsse sich schämen und dieses Bild sei ein Weckruf für eine Rückbesinnung auf Europas Werte - so oder ähnlich war es damals in Kommentaren, Leitartikeln und unter großformatigen Abdrucken des Bildes mit schwarzem Trauerrand zu lesen.
Aber die emotionalen Ausbrüche leitender Redakteure waren nur von kurzer Dauer, der Weckruf ist verhallt. Wäre er gehört worden, dann müssten längst von der EU gecharterte Fähren in den Häfen der Türkei und Libyens anlegen, um die Flüchtlinge von dort gefahrlos und ohne Schleuser nach Europa zu bringen. So, wie es ja schon seit Jahren von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten vielfach gefordert worden ist. Doch kein Politiker in der EU hat den Mut und die Konsequenz, diesen Schritt zu gehen. Weil sie eben auch wissen, was jeder Ökonom im Studium lernt: dass sich nämlich jedes Angebot seine eigene Nachfrage schafft. Dass solche Fährhäfen also Einwanderungswillige in noch größerer Zahl anziehen würden.
Keine nachhaltige Wirkung
Das Bild, das schon am Tag seines Entstehens vielfach zu einem Bild des Jahres stilisiert wurde - es hat also bestenfalls einen Moment betroffen gemacht, eine Debatte über journalistische Ethik ausgelöst ("Darf man das zeigen?"), aber keine dauerhafte Wirkung entfaltet.
Ganz anders das Motiv, das Unicef vor wenigen Tagen erst als "Foto des Jahres" ausgezeichnet hat (Artikelbild): Europäische Polizisten als Auslöser von Panik, Angst und Leid - das waren die Bilder dieses Sommers, die viel stärker an das Gewissen der Wohlstandsbürger im Norden des Kontinents appellierten als die Toten des Meeres. Die Scham jedenfalls, die viele angesichts solcher Fotos von den Grenzen und den Bahnhöfen in Südosteuropa in den sozialen Medien zum Ausdruck brachten, war ungleich größer.
Angela Merkel hat bis heute nicht klar geäußert, was konkret sie am Abend des 4. September bewogen hat, die deutschen Grenzen zu öffnen und bereits in den Tagen zuvor die mit Flüchtlingen überfüllten Sonderzüge aus Budapest nach München fahren zu lassen. Vielleicht wird sie uns irgendwann in ihren Memoiren darüber Auskunft geben. Aber Fotos wie das von Unicef ausgezeichnete sowie die zahlreichen TV-Bilder dieser Tage aus Ungarn, Serbien und Mazedonien könnten dabei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Ganz sicher waren sie Triebfeder für die zahllosen Menschen in München und anderen bayerischen Städten, die Hilfsgüter an die Bahnhöfe schafften und den ankommenden Flüchtlingen einen geradezu herzlichen Empfang bereiteten.
Die Bilder der Willkommenskultur
Seht her - Deutschland ist offen, warmherzig und so ganz anders als die anderen Länder, durch die ihr bisher gezogen seid! Das war die Botschaft, die die Bilder aus München vermittelten. Und die darin nur noch übertroffen wurden von den Selfies, die syrische Flüchtlinge gemeinsam mit der Bundeskanzlerin bei deren Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung am 11. September machten.
Vor allem diese Bilder sind ein Symbol dieses Jahres für Deutschland geworden. Dies gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen, wie die politische Klasse Deutschlands sich selbst sieht: "Wir sind die Guten, die Helfer, die mit allen schlechten Traditionen der deutschen Vergangenheit gebrochen haben." Zum anderen aber auch, wie die europäischen Nachbarn das Flüchtlingsthema sehen: "Ihr Deutschen habt sie geradezu herbeigerufen, also nehmt sie und lasst uns in Ruhe!" Ganz offen wird in Regierungskreisen diverser EU-Staaten von einem "deutschen Problem" gesprochen. Sicher ist damit: Diese Bilder des Jahres 2015 werden ihre Wirkung noch weit ins neue Jahr hinein entfalten! Und das ist es, was sie zu Bildern des Jahres macht.
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