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Die Nadelstichtaktik der Rechtsextremen

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Hans Pfeifer
30. August 2020

Rechtsextremisten und Reichsbürger haben im Rahmen der Corona-Proteste versucht, in den Reichstag vorzudringen. Die konkrete Gefahr mag gering gewesen sein, die langfristige ist dafür umso größer, meint Hans Pfeifer.

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Deutschland Berlin Protest gegen Corona-Maßnahmen
Protest gegen Corona-Maßnahmen vor dem Deutschen Reichstag am 29. August in BerlinBild: Reuters/C. Mang

Die Aktion wirkt spontan und halbwegs unkoordiniert: eine größere Menge von Menschen durchbricht die Absperrungen vor dem Berliner Reichstag, stürmt die Treppen hinauf und drängt in Richtung der gläsernen Eingangsportale. Sie schwenken die Fahnen des Deutschen Reichs - die Fahne der Antidemokraten - und grölen ihre Parolen.

Der "Sturm" ist schnell vorbei. Die Demonstranten lassen sich von wenigen Polizisten in Schach halten. Die nachrückenden Beamten räumen dann das Gelände. Also: alles halb so wild? Mitnichten! Denn die extreme Rechte in Deutschland verfolgt seit langem einen Plan.

Viele der modernen Rechtsextremisten haben ein wichtiges politisches Instrument gelernt: Geduld. Sie versuchen nicht mit aller Macht, den Reichstag zu besetzen. Ihnen reichen schon die symbolträchtigen Bilder vom Versuch und von den wehenden Fahnen ihrer Anhänger.

Das motiviert die eigenen Leute und der Rest der Gesellschaft denkt sich schnell: "Ist ja nichts passiert." Dieser Eindruck zeigt, wie brandgefährlich die Pläne der Rechtsextremen sind: sie vermeiden "Fehler", die ihrer Gier nach Macht und Bedeutung in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder im Weg standen.

Einkalkulierte Empörung

Das wichtigste Ziel der Männer und Frauen vor dem Reichstag war nämlich nicht, das Parlamentsgebäude wirklich zu besetzen. Nein, sie wollten genau das auslösen, was jetzt eingetreten ist: eine große Welle der Empörung. Regierungsmitglieder, Bundestagsabgeordnete und sogar der Bundespräsident verurteilen die Aktion auf das Schärfste.

Natürlich ist die Verurteilung richtig. Das Problem ist aber, dass die Erwiderungen kaum reflektieren, wie sehr einkalkulierte Empörung mittlerweile zu einem festen Bestandteil der rechten Strategie geworden ist: In den vergangenen Jahren haben Provokateure diese Nadelstichtaktik vielfach praktiziert. Die Folge: Die Öffentlichkeit gewöhnt sich zunehmend an solche Vorfälle, und die schnelle Kritik aus der Politik verkommt zum Ritual.

Und so sickert das Narrrativ der Rechten sehr erfolgreich immer tiefer in die Mitte der Gesellschaft ein. Das Motto lautet: "Politiker sollten sich lieber mal um die echten Probleme der Menschen kümmern!"

Diese Camouflage-Taktik rechter Hassprediger ist so erfolgreich, dass sie auf den großen Corona-Protesten in Deutschland mitlaufen können, ohne groß anzuecken. Selbst, wenn die Mehrzahl der Protestierenden keine Anhänger ihrer Botschaften sein sollte, gelingt es ihnen durch diese kalkulierte Selbst-Verharmlosung, die Grenzen des Sagbaren in ihre Richtung zu verschieben. 

Gefährliche Unterschätzung

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DW-Redakteur Hans Pfeifer Bild: DW/B. Geilert

Wohin die Demokratiefeinde mit ihrem Plan wollen? Ihr Ziel ist eine völkisch-rassistische Gesellschaft, die keine Demokratie und damit auch keine Pressefreiheit kennt. Was zählt, ist ausschließlich die eigene Meinung. Einwanderer, Journalisten und politisch Andersdenkende müssen um ihre Unversehrtheit und ihre Rechte bangen - davon zeugen die zahlreichen, drohenden Plakate auf den Corona-Protesten - sie zeigen Angela Merkel und anderen Persönlichkeiten in Häftlingskleidung. Vorbilder für dieses autoritäre und anti-demokratische Gebaren gibt es in Europa ja längst: In Polen und Ungarn regieren seit Jahren die Feinde der offenen Gesellschaft.

Und auch in Deutschland sind die Feinde einer offenen Gesellschaft in den vergangenen Jahren weit gekommen. Am Samstag wurden sie zwar am Eingangsportal des Deutschen Parlaments von Polizisten aufgehalten - aber die mächtigsten Stimmen ihrer menschenfeindlichen Politik haben es längst auf die andere Seite des Portals gebracht.

Denn im Deutschen Bundestag sitzt und provoziert seit 2017 die in Teilen rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland - als größte Oppositionspartei. Mit permanenten Anfeindungen gegen Muslime, Einwanderer, politische Gegner, Kirchen und gesellschaftliche Institutionen untergraben ihre Abgeordneten zunehmend die Werte der freiheitlichen Verfassung Deutschlands.

Das ist die wirkliche Gefahr solcher Aktionen wie die vor dem Reichstag: Dass die Bürgerinnen und Bürger unterschätzen, wie fatal die Schäden für die Demokratie sein können. Nicht heute oder morgen. Aber übermorgen.

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Hans Pfeifer Autor und Reporter