Krise in den USA
14. Oktober 2013Zu meinen inoffiziellen Pflichten als in Berlin lebender Amerikaner gehört die Aufgabe, gelegentlich meine deutschen Freunde über das politische System der USA aufzuklären. Kein leichtes Unterfangen, denn die meisten Menschen, die in demokratischen Nationen leben, setzen die einheimische Staatsform mit der Demokratie gleich. Dabei gibt es unzählige Modalitäten. Für Amerikaner ist es genauso befremdlich, dass relativ unbeliebte Politiker über Parteilisten Karriere machen können, genauso wie es den meisten Deutschen seltsam erscheint, dass Barack Obama nicht Chef der demokratischen Partei ist, oder dass der US-Präsident von Wahlmännern und nicht direkt vom Volk gewählt wird.
Für die jetzige Krise in Washington habe ich dennoch keine Erklärung, zumindest keine, die die Situation auf nachvollziehbare staatspolitische oder historische Gründe zurückführt. Was gerade am Capitol Hill stattfindet, ist keine Debatte um Staatsschulden, von der man sich einen vernünftigen, pragmatischen Kompromiss erhoffen könnte, sondern der Versuch einer Minderheit, nämlich der Tea Party, gegen den Willen der Mehrheit zu regieren. Keine Demokratie also, sondern - wie soll man es anders benennen? - eine Idiokratie. Eine Regierung der Dummen.
Man erinnert sich an Sarah Palin, die als Mutter dieser politischen Bewegung gilt. Ihre Nachfolger sind keinen Deut klüger. Michele Bachmann - die Anführerin der Tea-Party-Gruppe im Repräsentantenhaus und eine der Hauptverantwortlichen der Staatskrise - warnte einmal, dass Impfstoffe gegen bestimmte Geschlechtskrankheiten geistige Behinderungen verursachen, und denkt , dass es keine Arbeitslosen mehr in den USA gäbe, wenn man nur den Mindestlohn abschafft. Was sollen denn Präsident Obama und die Demokraten verhandeln? Es gibt keinen vernünftigen Kompromiss mit Leuten, die die Erde für eine Scheibe halten.
Dennoch hat die Wählerschaft des 6. Wahlbezirks des Bundesstaates Minnesota Bachmann vier Mal als ihre Repräsentantin gewählt. Es gibt 49 bekennende Tea-Party-Mitglieder im Repräsentantenhaus. Man kann nicht für Idiokratie argumentieren. Man kann nur versuchen zu erklären, wie sie entstanden ist. Und da muss man bei den Wahlbezirken anfangen.
Der giftige Salamander
Wenn man die Stimmen für Drittparteien ignoriert, bekamen die Republikaner nur 49 Prozent der Stimmen in der Repräsentantenhaus-Wahl 2012 - und die Demokraten 51 Prozent. Laut dem politisch unabhängigen "Cook Political Report" wählten 1,17 Millionen mehr Amerikaner demokratisch als republikanisch. Dennoch haben die Republikaner 234 der Sitze (etwa 54 Prozent) im Repräsentantenhaus, die Demokraten 201.
Schuld daran sind einige Wahlkreise, die so gebildet wurden, dass die Republikaner fast automatisch in der Mehrheit sind. Gerrymandering heißt das Phänomen. Das Wort stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als der damalige Gouverneur von Massachusetts, Eldridge Gerry, die Wahlbezirke zum Vorteil der eigenen Partei neu definierte. Ein Bezirk sah aus wie ein Salamander, daher die Wortschöpfung "Gerry-mander." Manche Wahlkreise 2012 wiesen ähnliche groteske Formen auf. Bei der Wahl des Präsidenten und des Senats, in dem alle Bundesstaaten lediglich zwei Abgeordnete haben, ist Gerrymandering wirkungslos. Bei der Wahl zum Repräsentantenhaus ist es Gift für die Demokratie.
Nationale Regeln oder Standards, wie Wahlkreise zu bilden sind, gibt es kaum in den USA. Die Verantwortung dafür liegt bei den einzelnen Bundesstaaten. Republikaner konnten ihre Siege bei den Lokalwahlen 2010 direkt in leichter zu gewinnende Wahlkreise übertragen. Die schlechte Nachricht: Die Wahlbezirke werden erst 2020 neu konfiguriert. Der "Cook Report" schätzt, dass bis dahin die Demokraten etwa 55 Prozent der Stimmen gewinnen müssten, um eine Mehrheit im Repräsentantenhaus zu erreichen.
Verblödung und fehlender Mut
Eine Folge davon ist, dass Entscheidungen über eventuelle Vertreter in die parteiinternen Vorwahlen vorgelagert werden. Hier setzt schon der irrationale Flügel der Republikaner an: Falls ein republikanischer Repräsentant mit einem "sicheren" Sitz der Tea Party nicht konservativ genug erscheint, droht ihm oder ihr ein Konkurrent von rechts. So werden Volksvertreter immer radikaler, religiöser und realitätsferner. Nach der Wahl 2012 gab selbst der republikanische Gouverneur von Louisiana Bobby Jindal zu, dass die Republikaner "the stupid party" geworden sind.
Dass die Tea-Party-Vertreter jetzt versuchen, die Obama-Regierung zu erpressen, sollte wirklich niemanden überraschen. Bestürzender ist der mangelnde Mut unter rationalen Republikanern, dem Irrsinnsflügel der Partei Einhalt zu gebieten. Der Anführer der Republikaner im Repräsentantenhaus, John Boehner, könnte die Staatskrise morgen beenden. Lieber lebt er mit den Idiokraten, als die eigene Position zu riskieren.
Dabei ist diese Strategie selbst ziemlich idiotisch, denn dieselbe Konstellation, die den Republikanern scheinbar eine sichere Mehrheit im Repräsentantenhaus in nächster Zukunft beschert hat, wird auch dafür sorgen, dass sie es ziemlich schwer haben werden bei den nächsten Präsidentschafts- und Senatswahlen. Eine Partei von Extremisten wird kaum eine Mehrheit auf nationaler Ebene finden können - die Mehrzahl der Amerikaner gibt ihnen die Schuld an dem jetzigen Stillstand in Washington.
Das Ende des Dialogs
Der Verdacht liegt nahe, dass die Tea-Party-Republikaner gar nicht mitregieren wollen. Denn die Demokratie setzt voraus, dass alle Beteiligten imstande sind, einen Dialog zu führen. In der Idiokratie kann man dagegen einen endlosen Monolog halten, egal wie absurd oder nichtssagend der Inhalt. In Obama hätten die Republikaner einen pragmatischen, eher unideologischen Gesprächspartner. Leider wollen sie keine Gespräche.
In einer Demokratie würden die Republikaner jetzt die Wahlschlappe von 2012 analysieren, mit dem Ziel, sich zu ändern und ihre Basis zu vergrößern. In der Tat machen sie genau das Gegenteil. Sie verharren in ihrem Fantasie-Universum, wo man nur den bösen Obama blockieren muss, um alle Probleme des Landes zu beseitigen. Das Tragische daran ist, dass die Republikaner durch ihre unverdiente Mehrheit im Repräsentantenhaus die ganzen USA in eine ähnliche Stagnation zwingen.
Ich muss zugeben, ich bin neidisch, wenn ich sehe, wie die Konservativen in Deutschland, die gerade fast eine absolute Mehrheit erreicht haben, mit ihren großen Widersachern verhandeln. Was dabei herauskommt, wird nicht perfekt, aber es wird demokratisch sein. Jedenfalls besser als die Resultate eines Systems, das zurzeit zum Unglück der ganzen Welt Dreistigkeit und Dummheit fördert.