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Kommentar: Die rosarote Pille

DW-Redakteur Arnd Riekmann (Foto: DW)
Arnd Riekmann
23. August 2015

In dieser Woche wurde in den USA das Medikament Flibanserin zugelassen. Schon ist vom "Viagra für Frauen" die Rede. Doch auch die pinke Pille bringt Alice nicht ins Sex-Wunderland, meint Arnd Riekmann.

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Liebespaar - Symbolbild "Viagra für Frauen", Flibanserin (Foto: picture alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/K. Rose

Frauen, holt endlich auf, schafft den Gleichstand, "Even The Score"! Mit dieser Kampagne hat Flibanserin-Hersteller Sprout Pharmaceuticals Frauen zur Aufholjagd aufgerufen und bekam dafür sogar Unterstützung von manchen Frauenrechtlerinnen. Schließlich, so der die US-amerikanische Pharmafirma, gebe es für Männer ja schon Potenzmittel, zum Beispiel Viagra. Das Unternehmen vermittelt den Eindruck, als liefe ein Rennen der Geschlechter um den geilsten Sexbooster.

Das unter dem Markenamen Addyi vertriebene "Viagra für Frauen" macht vor allem erst einmal die Herstellerfirma sexy: Der kanadische Pharmakonzern Valeant hat soeben Sprout geschluckt und dafür rund eine Milliarde US-Dollar auf den Tisch gelegt. So viel Geld gibt keiner aus, der nicht das große Geschäft wittert. Dabei müsste der Markt der potenziellen Patientinnen eigentlich eher klein sein.

Denn die US-Arzneimittelbehörde FDA hat das Medikament nur mit Einschränkungen zugelassen. Ärzte dürfen Flibanserin nur in engen Grenzen verschreiben, und zwar wenn eine Frau aufgrund einer sogenannten "hypoaktiven Sexualfunktionsstörung" (HSDD) kein Lustempfinden mehr hat und sie unter keiner weiteren Erkrankung leidet - etwa einer Depression. Auch darf die Patientin noch nicht in den Wechseljahren sein.

Erkauft wird die Aussicht auf ein vermeidliches Liebesglück außerdem mit dem Risiko heftiger Nebenwirkungen: Von Müdigkeit über Übelkeit und Angstzuständen bis hin zur Ohnmacht - aber eben nicht durch die Wonnen der Ekstase, sondern weil das Medikament den Körper zum Kollabieren bringt. Experten warnen sogar davor, dass Frauen, die nach längerer Einnahme das Medikament absetzen, Entzugserscheinungen bekommen - am Ende könne das sexuelle Verlangen durch eine Flibanserin-Anwendung möglicherweise ganz flöten gehen.

Luststeigerung aus Profitinteresse

Der Hersteller geht aber offensichtlich davon aus, dass es eben nicht nur einen Markt für eine kleine Minderheit der Frauen gibt, denen Ärzte das Präparat in höchster Not als allerletztes Mittel verschreiben. Laut Sprout ist gut ein Drittel der Frauen in den USA von HSDD betroffen. Schon ist von der politischsten Pille seit der Anti-Baby-Pille die Rede. Gibt es tatsächlich so viele, die keine Lust auf Sex haben, an diesem Zustand aber unbedingt etwas ändern wollen? Zweifel sind angebracht. Mir scheint, dass Frauen - deren Sexualität in der Tat seit Jahrhunderten oft nicht ernst genommen wurde - etwas eingeredet werden soll: Ihr habt keine Lust, also seid ihr krank!

Wann wird endlich akzeptiert, dass sich die Welt nicht für alle Menschen allein um Sex dreht? Und das ist nicht unbedingt eine Frage eines selbstgewählten zölibatären Lebensstils. Denn neben Hetero-, Homo- und Bisexualität gibt es eine weitere sexuelle Orientierung, auf die die jeweiligen Personen selbst keinen Einfluss haben: die Asexualität.

DW-Redakteur Arnd Riekmann (Foto: DW)
DW-Redakteur Arnd Riekmann

Wie viele asexuelle Frauen oder Männer es gibt, weiß niemand. Oft bleiben sie unerkannt, weil sie mit Partner oder Partnerin leben oder sogar Kinder haben - also in ihrem Leben schon einmal sexuell aktiv gewesen sind. Nur ganz wenige geben zu, an Sex kein Interesse zu haben. In Umfragen sagen ein bis zwei Prozent der Befragten, dass sie noch nie mit jemandem geschlafen haben. Wahrscheinlich sind sie nur die Spitze des Eisberges: Wer gibt schon gerne zu, in Sachen Erotik nicht mithalten zu können oder zu wollen? Das Thema ist tabubeladen.

Keine Pflicht zum Sex

Und es gibt weitere mögliche Gründe für Lustlosigkeit, die nicht medikamentös behandelt werden sollten: So manche potenzielle Flibanserin-Konsumentin hat vielleicht einfach nur nicht den richtigen Partner oder steht möglicherweise überhaupt nicht auf Männer, sondern auf Frauen. Gerade in prüden oder patriarchalen Gesellschaften kann Lesbischsein ein so großes Problem darstellen, dass eine Frau lieber ein Medikament nimmt, als sich ihre Neigungen einzugestehen.

Und für alle, auf die auch dies nicht zutrifft: Ein ungesunder Lebenswandel kann ebenfalls die Lust zum Erlahmen bringen - das gilt für Frauen wie für Männer. Rauchen, viel Alkohol und wenig Sport sind für die Libido nicht förderlich.

Sollen also Frauen ein Psychopharmakon schlucken müssen, um im Bett jederzeit zu liefern, was Partner oder Gesellschaft verlangen? Bitte nicht! Flibanserin verspricht keine sexuelle Befreiung, sondern eine Enthemmung. Es doktert an den Symptomen herum, es beseitigt nicht die Ursachen der Lustlosigkeit. Nehmt Frauen und ihre Sexualität endlich wirklich ernst! Setzt sie nicht unter Druck, redet ihnen nichts ein! Lasst sie den Sex haben, den sie selber wollen - oder eben nicht!