Die Türkei - von Angst getrieben
Die Türkei ist auf dem besten Weg, ein Trümmerhaufen zu werden: Blutvergießen bei Anschlägen in den Metropolen des Landes, Blutvergießen im Grabenkrieg gegen die Kurden in der Osttürkei. Dann das Überschwappen des Krieges aus Syrien sowie der Putschversuch und seine Folgen - ein anhaltender Notstand.
Die vielen Toten sowie die Angst, selbst Opfer eines Anschlags zu werden, haben die Türken nervös gemacht. Und obwohl die türkische Regierung ständig verspricht, dem Terror im Land ein Ende zu bereiten, nimmt die Instabilität immer weiter zu.
Furcht als kleinster gemeinsamer Nenner
Die Türken müssen nicht nur mit der Angst vor tödlichem Terror zurechtkommen, sie müssen sich auch vor etwas anderem fürchten: dem Verlust der Demokratie. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer wurden Tausende verhaftet, verloren ihren Job. Und nicht nur Gülen-Anhänger - jeder, der der regierenden AKP gefährlich erscheint, kann seither zur Zielscheibe werden.
Auch mit ihrer Zermürbungstaktik gegenüber der Kurdenpartei HDP gießt die Regierung weiteres Öl ins Feuer, spaltet das Land noch tiefer. Viele derer, die jetzt im Gefängnis sitzen, haben noch vor kurzem gemeinsam mit der AKP nach Lösungen für den Kurdenkonflikt gesucht. Eine gewählte Partei zu einfach beseitigen, hat mit Demokratie nichts mehr zu tun!
Der Tod der freien Presse
Noch besorgniserregender ist die Situation für die türkische Presse: Es gibt kaum noch freie, regierungskritische Medien, die sich nicht selbst zensieren und bei denen der Herausgeber noch nicht verhaftet wurde.
Noch komplizierter wird die Lage mit Blick auf die fast vier Millionen Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. Die Frustration der geflüchteten Syrer ist hoch. Denn sie sehen keine Perspektiven für sich und haben kaum Hoffnungen auf eine dauerhafte Zukunft in der Türkei. Nach der Schlacht von Aleppo sind nun neue Flüchtlingsströme zu erwarten, was die sozialen Spannungen noch weiter verschärfen dürfte. Dass der Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union ständig in Frage gestellt wird, macht die Situation nicht gerade leichter.
Warum ausgerechnet jetzt die Verfassung reformieren?
Angesichts dieser Fülle an Problemen überrascht Erdogans großes Engagement für die angestrebte Verfassungsreform hin zu einem Präsidialsystem nach US-amerikanischem oder französischem Vorbild. Der Terroranschlag von Istanbul vor einer Woche hat nochmals deutlich gemacht, dass es zurzeit wirklich dringlichere Angelegenheiten gibt: Die Regierung muss eine Lösung für die Terrorgefahr finden - denn der Doppelanschlag vom Samstag war nur einer von vielen im Jahre 2016.
Der Terrorismus in der Türkei ist ganz klar auf dem Vormarsch und hat bereits einen erheblichen Einfluss auf das tägliche Leben dort. Daher benötigt das Terrorismusproblem ungeteilte Aufmerksamkeit und sollte alle politischen Energien binden.
Nationale Mobilmachung
In seiner Rede an die Ortsvorsteher am Mittwoch, die mittlerweile so etwas wie sein Markenzeichen geworden sind, rief Erdogan zur nationalen Mobilmachung gegen den Terror auf. Die Türken müssten einig sein und ihre Feinde sollten wissen, dass man zurückschlagen werde.
Ganz nebenbei appellierte er an die Ortsvorsteher, verdächtige Aktivitäten in den Kommunen umgehend zu melden - denn wer sonst wisse besser, was in den türkischen Haushalten vor sich gehe? Diese Idee steht jedoch in krassem Widerspruch zu der von Erdogan eingeforderten Einigkeit des Volkes. Nicht nur, weil sie einen Eingriff in die Privatsphäre der Türken bedeutet - sie verstärkt vor allem auch ganz massiv die Angst der Bürger, bei der Regierung denunziert zu werden. Und so wird eine ohnehin traumatisierte Öffentlichkeit nur noch weiter eingeschüchtert.
Die AKP treibt stets großen Aufwand, um den Opfern von Terroranschlägen die letzte Ehre zu erweisen. Das alleine reicht aber nicht aus: Besser wäre ein konkreter Plan, wie Frieden und Einigkeit in der Türkei zurückgewonnen werden können.
Seda Serdar ist die Leiterin der Türkischen Redaktion der DW.
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