Kommentar: Europäischer Einheitsgeist - eine Utopie
Das gemeinsame Haus Europa wackelt gehörig und droht, aus den Fugen zu geraten. Angefangen hat es mit Griechenland. Das schöne Märchen von der Einheitswährung ist langsam zum Albtraum geworden. Schuldenberge, gebrochene Versprechen, frisierte Bilanzen. Brüssel schustert an Lösungen herum, ist aber offensichtlich überfordert und letztendlich machtlos. Und zu allem Überfluss kam am Dienstag dies: Ungarn kündigte an, die sogenannte Dublin-Verordnung auf unbestimmte Zeit auszusetzen.
Diese mehrmals überarbeitete Verordnung regelt die Zuständigkeiten der Unterzeichnerländer bei Asylverfahren. Daran beteiligt sind alle EU-Staaten, aber auch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. So weit, so gut. Doch durch das Verfahren entsteht für einige dieser Länder, wegen ihrer geografischen Randlage in der EU eine größere Belastung. Einen Solidaritätsmechanismus sieht die Verordnung noch nicht vor - auch weil reichere und mächtigere Länder wie Deutschland ihn bisher abgelehnt haben.
Inakzeptabler Vorschlag
Kommen also verzweifelte Menschen aus Syrien oder Afrika nach Europa, müssen sie im Ankunftsland einen Asylantrag stellen. Ziehen sie dann weiter und werden aufgegriffen, müssen sie in dieses erste Land zurückgeführt werden. Überfüllte Flüchtlingslager in Italien und Spanien sind ein Ergebnis dieser Verordnung. Die ungarische Regierung befürchtet, dass mehrere Zehntausend Flüchtlinge, die über Serbien nach Ungarn und dann weiter nach Westeuropa gereist sind, wieder aufgenommen werden müssen. Und gerade gegen dieses Prozedere versucht sich Ungarn zu wehren. Doch die Art, wie Budapest die Verordnung aussetzen wollte, ist verwerflich. Eine einseitige Aushebelung bestehender Gesetze und Abkommen in einer Union, der man freiwillig beigetreten ist, widerspricht jeglichem europäischen Einheitsgeist.
Mangel an Solidarität - ja, den gibt es. Aber darüber muss gesprochen werden. Wo kämen wir hin, wenn jeder EU-Staat die bestehenden Regelungen nach Belieben kippt? Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Ungarn und sein populistischer Ministerpräsident Viktor Orban eine fragwürdige Linie fahren. Von Orban stammt die abstruse Idee der "illiberalen Demokratie". Von ihm kommt der Auftrag, an der Grenze zu Serbien einen vier Meter hohen Zaun gegen die Flüchtlingsströme hochzuziehen. Gleichzeitig träumt er im geeinten Europa laut von einem Groß-Ungarn. Und das alles, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen.
Keine Präzedenzfälle
Keine Frage, Länder wie Griechenland oder Ungarn schwächen die EU. Es sind aber nicht die einzigen. Hinzu zählen muss man Rumänien, in dem seit gut drei Jahren der machthungrige Premierminister Victor Ponta und die von ihm kontrollierte Parlamentsmehrheit immer wieder versuchen, Justiz und Rechtsstaat zu blockieren. Bulgarien hat auch schon längst Mauern gegen Flüchtlinge hochgezogen, Spanien auch.
Jetzt scheint Brüssel endlich ein Machtwort gesprochen und Budapest sich dem Druck aus der EU gebeugt zu haben. Es war höchste Zeit, um keinen Präzedenzfall entstehen zu lassen. Trotz alledem: Die EU scheint immer mehr zu einem Quassel-Klub der besonderen Art zu verkommen, in dem Tausende Verordnungen besprochen und verabschiedet werden, an die sich danach immer weniger halten. Europäische Einheit haben wir uns anders vorgestellt.
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