Da saß er, der junge Schüler, inmitten von fremden Mitschülern, die eine ihm fast unbekannte Sprache gebrauchten. Nein, er war kaum vertraut mit dem Französischen, denn seine Eltern, polnische Juden, die Mitte der 1950er Jahre nach Frankreich gekommen waren, unterhielten sich in einer ganz anderen Sprache. Aber das, fanden die neuen Lehrer in Paris, war das persönliche Problem des jungen Migrantenkindes - und mitnichten eines, das die ganze Klasse angehe. Wollte er im Unterricht mithalten, müsse er sich eben doppelt anstrengen, teilten sie ihm mit. Der Junge fügte sich - und wurde schließlich einer der bekanntesten französischen Philosophen.
Die Republik macht unabhängig
Nicht zuletzt seine eigene Biographie hat den Philosophen Alain Finkielkraut dazu gebracht, sich vehement für die Ideale der französischen Republik einzusetzen - eine Institution, die die Menschen nicht allein in die Gesellschaft integriert, sondern sie im besten Fall sogar verwandelt, sie über sich selbst herauswachsen lässt. Die Republik, das ist jene wunderbare Maschine, die ihren Bürgern die einmalige Chance bietet, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, frei und unabhängig zu werden.
Doch ihre dynamische Kraft, fürchtet Finkielkraut, drohe die Republik derzeit zu verlieren - weil sie nämlich zu viel Rücksicht auf die geographische, kulturelle und religiöse Herkunft der Bürger nehme. Das gelte insbesondere in der Schule, wo man im Namen der Achtung kultureller "Identitäten" allzu leichtfertig darauf verzichte, von den Schülern die Einhaltung der schulischen Spielregeln zu fordern; und zwar auch und gerade was die Demonstration ihres jeweiligen Glaubens angehe. So begrüßten Finkielkraut und eine Gruppe französischer Intellektueller das 2004 ausgesprochene Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen (das Tragen von Kreuz und Kippa ist dort ebenfalls verboten).
Das zentrale Argument: Es könne nicht nur darum gehen, die "Differenz" der Schüler zu achten. Noch wichtiger sei ein anderes Recht der Schüler, nämlich das auf "Differenz zur Differenz" - die Möglichkeit also, sich beispielsweise vom Elternhaus zu emanzipieren, eigenständige, vom Standpunkt der Eltern auch durchaus verschiedene Positionen zu vertreten.
Schmerz und Chance
Am Beispiel der Schule zeigt sich eine der tiefgründigen Herausforderungen, vor der moderne Republiken heute stehen: Sie müssen den Schmerz managen - den Schmerz, den es bedeutet, ideologisch Abschied zu nehmen. Denn die großen, einigenden Bänder früherer Zeiten haben ihre einst selbstverständliche Geltung verloren: der Glaube an Gott nach den definierten Regeln einer Religion, das Vaterland, das ethnisch homogene Volk - sie alle können auf geschlossene Anhängerschaft nicht mehr zählen. Es genügt schon, dass ein Einzelner nicht mehr an eine dieser Ideen glaubt, und der Pluralismus ist in der Welt. Und weil er in der Welt ist, sind Republiken keine Glaubensgemeinschaften. Sie ticken ideologisch nicht in einem, sondern in vielen unterschiedlichen Rhythmen.
Das hinzunehmen, mag insbesondere jenen schwer fallen, denen ihr Glaube vieles, wenn nicht gar alles bedeutet - sei der an einen bestimmten Gott, das Vaterland oder das eigene Volk. Aber die Anerkennung des Unabänderlichen, nämlich der ideologischen Vielfalt der Gesellschaft, ist Voraussetzung für das Gelingen der Republik. Wer mit anderen auf engem Raum zusammenlebt, muss auch tolerant gegenüber anderen sein. Das mag zwar manchem weh tun, garantiert dafür aber den Bestand des Gemeinwesens. Und es erlaubt den Bürgern zudem, sich ständig neu zu erfinden, weit über die Schuljahre hinaus.
Hinter den Pluralismus kann kein freier Staat kulturell und politisch mehr zurück. Wer das nicht akzeptiert, lehnt die Moderne insgesamt ab - und mit ihr das jenes Gesellschaftsmodell, das seit immerhin 70 Jahren den Frieden im Westen Europas garantiert. Eben darum wird in Frankreich über die Prinzipien der Republik so intensiv diskutiert. Letztlich geht es um nicht weniger als die Zukunft der Gesellschaft.
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