Bob Dylan - Der erste Rapper
Ich war 13 und zum ersten Mal verliebt, unsterblich verliebt. Aufgeregt saß ich im Kerzenschein eines dämmrigen Januarnachmittags auf einem abgeschabten Second-Hand-Sofa, während das Objekt meiner Begierde am Plattenspieler hantierte, schließlich die Nadel vorsichtig aufsetzte. Nach ein paar Akkorden ging das Kratzen der Nadel in eine nasale, kratzige Stimme über. "The answer, my friend, is blowin‘ in the wind - Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind" - das traf mich mitten ins Herz. Auch wenn ich außer dem Refrain nicht viel von dem verstand, worüber dieser Mann eigentlich sang.
Das war meine erste Begegnung mit Bob Dylan. Aus der ersten Liebe wurde schließlich nichts, warum, weiß ganz allein der Wind. Meine Liebe zu Bob Dylan aber blieb. Bis heute.
Der Schlüssel zu einer neuen Welt
Deshalb finde ich es großartig, dass Bob Dylan nun endlich den Literatur-Nobelpreis bekommt. In den vergangenen 20 Jahren wurde der wohl berühmteste Liedermacher der Welt immer wieder vorgeschlagen und immer wieder ging er leer aus. Erst die Jury 2016 befand: Bob Dylan habe "neue poetische Ausdrucksformen der großen amerikanischen Songtradition geschaffen". In den Liedern und Texten, mit deren Bildern, Menschen, Anspielungen und Zitaten ich Englisch gelernt habe. Denn ich wollte rasch mehr als nur den Refrain von "Blowin‘ in the Wind" verstehen.
Bob Dylans Texte waren für mich auch Schlüssel zu einer neuen Welt - der seines großen und widersprüchlichen Heimatlandes namens USA, auf das wir als Jugendliche so sehnsüchtig blickten. (Buchstäblich: Die abendliche Skyline von New York war in den 1970er Jahren ein äußerst beliebtes Fototapeten-Motiv.) Dylans klagende Gitarrenmusik drückte diese Sehnsucht perfekt aus - und seine Texte zeigten die andere Seite der glatten Fassade Amerikas, die Kinofilme und Fernsehserien (von "Grease" über "Bonanza" bis "Die Straßen von San Francisco") zu uns nach Deutschland brachten. Denn sie besangen ein ganz anderes Amerika: das der Kritiker des amerikanischen Traumes, der Unangepassten, der Unterdrückten, der Minderheiten. Ich lernte Joan Baez kennen und lieben, die Bob Dylan auf ihren Konzerten ihrem Publikum vorstellte (sie war zunächst bekannter als er), mit ihrer glockenhellen Stimme viele seiner Songs interpretierte und auch eine Zeitlang mit ihm zusammen war. Ich entdeckte Pete Seeger und Arlo Guthrie und den österreichischen Liedermacher Wolfgang Ambros, der Dylan auf Deutsch sang (Pardon, Österreichisch - das ich so nebenbei auch zu verstehen lernte).
Begleitmusik einer Jugend in den 1970er Jahren
Sie alle waren der musikalische Gegenentwurf zu dem, was zu Hause im Radio lief (die erfolgreichste Single des Jahres 1979: Peter Maffay mit "So bist du"). Dylan und die amerikanischen Protestsänger spielten die Begleitmusik meiner Jugend. Mit ihnen protestierten wir gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens mit der "Startbahn West" und den Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung von Atomwaffen in Westeuropa. Ich versuchte, "I shall be released" auf der Gitarre zu spielen (und scheiterte schon am zweiten Akkord, einem B-Moll). Und ich fand es toll, die Nachbarn am heiligen Sonntag mit "All Along the Watchtower" in Maximallautstärke zu beschallen. Da fühlte ich mich wild, frei und rebellisch (sie werden wohl milde gegrinst haben, wenn es mal wieder soweit war). Ich beschäftigte mich mit dem Vietnamkrieg, der erst ein paar Jahre zurück lag, mit Politik und Geschichte (die ich als Schulfächer stinklangweilig fand). Durch Dylan und die Protestsänger wurde ich ein politisch denkender Mensch. Danke für diesen Soundtrack meiner Jugend, Bob Dylan.
Und was ist mit der Jugend heute? Als wir im Vorfeld von Dylans 75. Geburtstag am 24. Mai 2016 heftig darüber diskutierten, ob Dylan jungen Leuten heute überhaupt noch etwas sage, nahm ich diese Frage mit nach Hause. Und stellte sie meinem 20-jährigen Sohn, aus dessen Smartphone ich schon ab und an mal "Tambourine Man" hatte klingen hören. "Klar", antwortete der. "Natürlich. Bob Dylan war der erste Rapper." Dem ist nichts hinzuzufügen. Herzlichen Glückwunsch zum Nobelpreis!
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