Kommentar: Neue Chance für die Demokratie in der Türkei
3. Mai 2007Es ist nunmehr frei von allen Zweifeln, dass der Laizismusstreit in der Türkei endgültig zu einer Staatskrise ausgeartet ist. Es ist müßig, jetzt nach Schuldigen zu suchen. Waren es die religiös-konservativen um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die sich beflügelt von einer fast Zwei-Drittel-Mehrheit in der Großen Nationalversammlung wie in einem Ein-Parteien-Regime ohne jegliches Bemühen um Kompromisse verhalten haben? Auch wenn der nunmehr gescheiterte Präsidentschaftskandidat Abdullah Gül als Außenminister sicherlich große Verdienste um die positiven Entwicklungen in den auswärtigen Beziehungen seines Landes hat, seine religiöse Vergangenheit und seine Frau mit Kopftuch konnten die Laizisten nicht einfach akzeptieren.
Waren die Sozialdemokraten und die anderen etablierten politischen Parteien die Schuldigen, die sich seit Jahren hoffnungslos gespalten und es versäumt hatten, vernünftige wählbare alternative Programme aufzubereiten und charismatische Politiker aufzubieten? Oder waren es die Militärs, die mit einer Erklärung hart an der Grenze zu einer Denkschrift unter Berufung auf ihre traditionelle Rolle als Hüter der laizistischen Grundordnung die Gesellschaft auf dem falschen Fuß erwischt haben?
Entspannung ist notwendig
Das Verfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung zu einer Entspannung der Lage geführt. Die Proteste von Hunderttausenden Menschen, die gegen Gül demonstrierten und gleichzeitig einen weiteren Militärputsch abgelehnt haben, waren ein Zeichen für einen drohenden Frontalzusammenstoß zwischen Anhängern der strikten Trennung von Staat und Religion und den Befürwortern einer weiteren Islamisierung des Landes.
Die um etwa vier Monate vorverlegte Neuwahl des Parlaments gewährt der Demokratie in der Türkei eine neue Chance. Die Neuverteilung der Kräfte könnte eine nicht mehr anfechtbare Wahl des 11. Staatspräsidenten der Türkei parlamentarisch-demokratisch absichern. Doch sieht es aber auch so aus, als ob die vorerst verhinderte Eskalation der Polarisierung lediglich aufgeschoben sein könnte. Aufgrund der Zehn-Prozent-Hürde droht wieder eine unverhältnismäßig große Mehrheit für die stärkste Partei, die voraussichtlich wieder Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung sein wird. Es sei denn, die konservativen und sozialdemokratischen Parteien rechts und links von der politischen Mitte überwinden ihre Zersplitterung und werden damit wählbarer, damit nicht wie vor fünf Jahren wieder ein Drittel der Stimmen unter den Tisch fallen.
Sollte Erdogan mit seiner Partei wieder mit unveränderter oder gar mit noch größerer Mehrheit ins Plenum zurückkehren, dann wird es schwer sein, eine weitere Verstärkung der Islamisierungstendenzen zu verhindern. Die AKP dürfte dann gestärkt mit neuem Votum des Volkes erneut einen Präsidentschaftskandidaten aus ihren religiös-konservativen Reihen ins Rennen schicken, dessen Frau ein Kopftuch trägt. Dann aber droht der türkischen Demokratie ein tiefer Absturz in die Zweitklassigkeit, weil die Laizisten mehr als bisher eine erneute Intervention der Armee unterstützen werden.
EU-Beitritt rückt in weite Ferne
Die inzwischen in weite Ferne gerückten Hoffnungen auf einen Beitritt in die Europäische Union dürfte zudem die Hemmnisse vor einem Krach mit dem Westen minimieren. Die Zahl der EU-Befürworter unter dem türkischen Halbmond hatte sich in den vergangenen zwei Jahren ohnehin rapide verringert, nachdem in den EU-Ländern der Fehler gemacht worden war, die Türkei-Politik zum Wahlkampfthema zu degradieren und die Ablehnung der weiteren Heranführung eines treuen und zuverlässigen Verbündeten an europäische Werte und Normen in den Vordergrund zu rücken.
Baha Güngör
DW-RADIO/Türkisch, 2.5.2007, Fokus Ost-Südost