"Einen Termin gibt es noch nicht" heißt es im Rathaus von Chemnitz, aber Bundeskanzlerin Angela Merkel habe der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig in einem Telefonat einen Besuch angeboten. Das habe sie gerne angenommen. Das konkrete Datum steht zwar noch nicht fest, wird aber auf jeden Fall erst im Oktober sein. Das jedoch ist viel zu spät. Denn Bundeskanzlerin Angela Merkel ist dem Gebot der Stunde nicht gefolgt. Kam nicht in die verwundete Stadt in ihrer Stunde der Not. Chemnitz, das seit dem mutmaßlichen Mord an einem jungen Mann durch mehrere Flüchtlinge auf offener Straße zum Schlachtfeld der Rechten und ihrer Mitläufer geworden ist. Das war ein Fehler, der Nachwirkungen haben wird.
Chemnitz lässt sich nicht aussitzen
Die Kanzlerin, die selbst aus dem Osten kommt, blieb in Berlin, machte wie geplant ihre Reise nach Afrika, versuchte auszusitzen, was nicht auszusitzen war. Der rechte Scharfmacher der AfD, Björn Höcke, erkannte hingegen sofort, welch politisches Kapital auf den Straßen von Chemnitz zu holen war. Am vergangenen Samstag übte er öffentlichkeitswirksam den Schulterschluss mit Pegida-Gründer Lutz Bachmann, organisierte einen angeblichen "Trauermarsch" durch die Innenstadt. Die Rechten und extrem Rechten zeigten sich vereint in ihrer vermeintlichen "Trauer". Darunter auch jede Menge "besorgte Bürger". Die Verstörung der Menschen darüber, was in ihrer Stadt, in ihrem Land plötzlich geschieht: greifbar für alle Beobachter.
Im Kanzleramt hatte man dabei durchaus erkannt, worum es geht. Regierungssprecher Steffen Seibert diagnostizierte korrekt eine "Botschaft des Hasses auf unser demokratisches Deutschland" und appellierte noch am Montag, dass man "mit allen Mitteln der Politik" dagegen vorgehen müsse. Also schickte die Bundesregierung - wen? Bundesfamilienministerin Franziska Giffey! Am vergangenen Freitag meldeten die Nachrichtenagenturen noch, sie sei "als erstes Mitglied der Bundesregierung" nach Chemnitz gekommen. Nur - es folgte niemand. Nicht die Kanzlerin, nicht der Innenminister Horst Seehofer - Kopfschütteln bei allen Ministeriumssprechern in der montäglichen Bundespressekonferenz. Arbeitsverweigerung durch die Regierungsbank bei der Verteidigung der Demokratie - und darüber hinaus: auch beim Bundespräsidenten.
Dafür wird von Berlin aus derzeit viel telefoniert. Merkel und Seehofer sprechen vor allem mit dem mittlerweile sichtbar erschöpften CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer. Dem bescheinigen auch Kritiker den ernsthaften Versuch, sich den Ängsten der Bürger in Dialogveranstaltungen zu stellen. Dass die Polizei das Potenzial der ersten Demonstrationen vor gut einer Woche unterschätzt hat und dadurch selbst in Bedrängnis geriet, ist dabei sinnbildlich für die jahrzehntelange Relativierung des rechten Potenzials in Sachsen. Die Unzufriedenheit wächst, gerade im Osten. Es wird hängen bleiben, dass Merkel in der Stunde der Not in Sachsen nicht sofort zur Stelle war.
Angst vor "unschönen Bildern"?
Stattdessen also am Montagabend 65.000 Menschen beim Konzert #wirsindmehr gegen rechte Hetze. Klar wollen alle Demokraten, dass von den gesellschaftlichen Verwerfungen, die in Chemnitz so offen auf der Strasse explodierten, eher ein "Party statt Pegida" statt ein "System ist am Ende" übrig bleibt. Doch Merkel hat es hier versäumt, ihre politischen Mittel einzusetzen. Warum nur? Weil ihr bewusster Symbolismus auch nach fast 13 Jahren im Amt noch immer fremd ist? Weil ihr das Bundeskriminalamt aus Sicherheitsgründen abgeraten hat? Wer will schon das Wohl der Menschen vor Ort noch weiter aufs Spiel setzen. Oder war das Risiko unschöne Bilder zu produzieren einfach zu groß? Denn sicher hätte die Rechte bundesweit mobilisiert, um einen Merkel-Auftritt in einen Merkel-muss-weg-Auftritt zu verkehren.
Was immer der genaue Grund war: Der Eindruck, der bleibt, ist ein Verkriechen der Regierung aus Angst vor den Rechten. Ein Punktsieg, der in diesen Kreisen womöglich als Ermunterung verstanden wird. "So fängt es an" seufzt eine polnische Kollegin. Es wäre an Merkel gewesen, sich mit allen ihren politischen Mitteln in diesen Sturm zu stellen und nicht erst zu kommen, wenn der Wind wieder abgeflaut ist.