Russland mit am Tisch
16. September 2014Vor etwa einem Jahr war man auf beiden Seiten schon einmal soweit. Das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU war unterschriftsreif. Doch in letzter Minute machte der damalige ukrainische Präsident Viktor Janokowitsch einen Rückzieher. Moskau hatte ihm mit schweren wirtschaftlichen Konsequenzen gedroht, sollte er tatsächlich unterschreiben, und gleichzeitig mit einem umfangreichen Kredit für das überschuldete Land gelockt, falls er sich Russland zuwende. Das zog bei Janukowitsch. Es trug ihm allerdings den Zorn seiner Landsleute ein und kostete ihn nach wochenlangen Protesten schließlich das Amt.
Freihandelsabkommen später
Sein Nachfolger Petro Poroschenko hat nun zwar die Hinwendung zur EU vollzogen, doch er steckt in einer ähnlichen Zwickmühle, und zwar sowohl im Umgang mit Moskau als auch innenpolitisch: Um Russland zu besänftigen, hat Poroschenko die EU gebeten, das Freihandelsabkommen, das mit dem Partnerschaftspakt verbunden ist, bis auf Anfang 2016 zu verschieben. In der Zwischenzeit, so seine Hoffnung, entspannt sich das Verhältnis mit Russland vielleicht.
Doch wegen dieser Verschiebung fühlen sich viele Ukrainer von ihrem westorientierten Präsidenten verraten; es wäre möglich, dass sie bald gegen ihn auf die Straße gehen werden. Aber im Grunde hat die ukrainische Führung keine andere Wahl. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden. Russland könnte es sofort in die Knie zwingen. Dazu kommt die militärische Situation: Die Krim-Annexion hat gezeigt, dass der russische Präsident Wladimir Putin bei einer günstigen Gelegenheit nicht zögern würde, sich fremdes Land anzueignen. Seine Soldaten stehen bereits in der Ostukraine. So findet die Annäherung zwischen der EU und der Ukraine im wahrsten Sinne des Wortes unter vorgehaltener russischer Waffe statt.
Die EU gibt nicht nur, sie fordert auch
Kiew und Brüssel werden sich deswegen nur in sehr vorsichtigen kleinen Schritten aufeinander zubewegen können. Das könnte die ukrainische Bevölkerung auf eine harte Geduldsprobe stellen. Das Dilemma besteht auch darin, dass die wirtschaftlichen Vorteile der EU erst langfristig spürbar sein werden, russische Strafen aber sofort wirken.
Und Brüssel gibt nicht nur, es verlangt auch, nämlich Reformen: Die ukrainischen Landwirtschaftssubventionen, die Hilfen für die veraltete Stahlindustrie müssen längerfristig abgebaut werden. Es kämen auch westeuropäische Konkurrenten auf den ukrainischen Markt und würden einheimische Hersteller verdrängen. Das sind zwar die üblichen Anpassungsprozesse, wie sie jedes Land durchmacht, das sich der EU annähert und letztlich beitreten will. Im Fall der Ukraine haben sie aber eine besondere Brisanz.
Wo ist die Alternative?
Und doch scheint die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung diesen Weg gehen zu wollen. Denn was ist die Alternative? Eine Mitgliedschaft in der eurasischen Zollunion gewiss nicht, jedenfalls nicht freiwillig. Dort arbeitet Russland vor allem mit Drohungen, es kann gewährte Vorteile jederzeit wieder zurücknehmen, es handelt willkürlich und nimmt sich notfalls, was es will - siehe Krim. Bei der EU winkt natürlich auch kein Paradies und schon gar nicht sofort, aber die Menschen wissen wenigstens, auf was sie sich einlassen und wie der Annäherungsprozess verläuft. Verschiedene Europapolitiker haben gesagt, wäre die Ukraine 2004 EU-Mitglied geworden so wie eine Reihe anderer ehemaliger sowjetischer Satellitenstaaten, könnte sie heute einen Lebensstandard wie Polen haben. Das wäre nicht wenig.
Den russischen Faktor mitdenken
Doch die Ukraine ist nicht beigetreten und wird es auf absehbare Zeit auch nicht tun können, weil das mit dem Russland unter Putin nicht zu machen sein wird. Darf Russland bestimmen, welche Bündnisse sich die Ukraine sucht? Natürlich nicht. Doch nur ein Narr würde den russischen Faktor ignorieren. Dafür steht zuviel auf dem Spiel.
Es bleibt einstweilen nichts anderes übrig, als den Weg der kleinen Schritte weiterzugehen, Optionen offenzuhalten, in Moskau Überzeugungsarbeit zu leisten, dass Russland von einer Annäherung der Ukraine an die EU nichts zu befürchten, sondern im Gegenteil nur zu gewinnen hat. Kommt der Sonderstatus für die Ostukraine, wäre das ebenfalls ein kluger Schritt. Daneben muss die EU aufpassen, dass die Spirale aus Sanktionen und Gegensanktionen nicht außer Kontrolle gerät: Zeichen setzen gegen den Völkerrechtsbruch - ja. Strafen, um zu zeigen, wer der Stärkere ist - nein. Dann gäbe es nur Verlierer.