Mein Vater war ein wandelndes lokalgeschichtliches Lexikon. Und er konnte ungemein spannend erzählen. Was ich über meine Heimat und Herkunft weiß, weiß ich von ihm.
Mehrfach hat er mir auch erzählt, wie er den 10. November 1938 erlebt hat. Das deutschlandweite Judenpogrom fand in der südwestdeutschen Kleinstadt, aus der ich stamme, nämlich nicht am Abend des 9. November, sondern erst am frühen Nachmittag des nachfolgenden Tages statt. Mein Vater besuchte damals die erste Schulklasse, und die Kinder bekamen zum Unterrichtsende von ihrem Lehrer den Rat, auf dem Heimweg die Synagoge und die Häuser der Juden zu meiden, besser Umwege zu gehen. Dort könne es nämlich gefährlich sein.
Natürlich haben mein Vater und seine Freunde - typisch für Sechs- oder Siebenjährige - den fürsorglich gemeinten Hinweis ihres Lehrers als direkte Aufforderung verstanden, nachzusehen, was denn mitten am Tag in einem Provinznest wohl so gefährlich sein könne. Sie stießen auf eine brennende Synagoge, die von der Feuerwehr nicht gelöscht wurde, eingeschlagene Schaufensterscheiben und verwüstete Ladenlokale der von Juden geführten Geschäfte. Und sie wurden Augenzeugen, wie aus der Wohnung einer jüdischen Familie die gesamte Einrichtung aus den Fenstern im ersten Stock auf die Straße geworfen wurde.
Was ging in meinen Großeltern vor?
Was damals alles passiert ist in der Kleinstadt mit ihren noch knapp 30 jüdischen Einwohnern, ist inzwischen bestens dokumentiert und nachzulesen. Was ich meinen Vater aber gerne noch einmal fragen würde: Wie meine Großeltern eigentlich reagiert haben auf den Bericht ihres ältesten Sohnes über das, was sich da am helllichten Tag mitten in der Stadt abspielte. Ob sie versucht haben, ihm das aus heutiger Sicht Unerklärliche zu erklären. Wie sie es kommentiert haben, dass keine 300 Meter von unserem Haus entfernt Frauen und Kindern die Tür eingetreten und das gesamte Mobiliar kurz und klein geschlagen wurde. Die jüdischen Männer waren nämlich bereits in den frühen Morgenstunden des 10. November verhaftet und mit einem Sonderzug ins Konzentrationslager nach Dachau verschleppt worden.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann will ich es eigentlich gar nicht wissen. Muss es auch nicht erfragen, weil ich die Antworten im Prinzip kenne. Nein - meine Großeltern waren keine überzeugten Nazis, das weiß ich sicher. Aber sie haben weggeschaut und geschwiegen, wie Millionen andere Deutsche. Eltern von vier kleinen Kindern taugen selten als Helden oder Märtyrer. Und dass es das KZ Dachau gab und was dort passierte, das wussten sie, seit dort 1933 der Bürgermeister und mehrere sozialdemokratische Stadträte über Wochen inhaftiert worden waren. Außerdem ging es um die Juden - was hatten wir als Katholiken mit denen schon zu tun? Deswegen etwas riskieren?
Die systematische Ausgrenzung und Entrechtung der Juden begann nicht erst im November 1938. Schon wenige Wochen nach Hitlers Machtübernahme wurde jüdischen Händlern erstmals "Kauft nicht bei Juden" auf die Schaufensterscheiben geschmiert, wurden jüdische Beamte entlassen sowie Ärzte, Anwälte und Journalisten mit Berufsverbot belegt. Dazu die Nürnberger Rassengesetze, Enteignungen und vieles andere mehr. Der 9. und 10. November 1938 jedoch - das war der Übergang zum offenen Terror vor den Augen des gesamten Volkes. Und auch meine Familie hat schweigend zugesehen. Das verstört und beschämt mich. Selbst 80 Jahre danach.