1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kommentar: Theologischer Wildwuchs

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
24. Januar 2016

Die Äußerungen eines Kölner Imams zu den Silvesterübergriffen sorgen für Aufregung. Noch ist die Intention des Imams unklar. Doch der Fall wirft Licht auf ein grundsätzliches Problem des Islam, meint Kersten Knipp.

https://p.dw.com/p/1Hixh
Kölner Imam Sami Abu-Yusuf i´bei "REN TV" (Foto: YouTube/REN TV)
Bild: YouTube/REN TV

Der Kölner Imam Sami Abu-Yusuf hat es in Deutschland zu berüchtigter Berühmtheit gebracht. Ob mit Absicht oder durch die Nachlässigkeit Anderer, ist derzeit noch offen. Er selbst jedenfalls fühlt sich schlecht verstanden und vor allem falsch wiedergegeben.

Die ihm gewidmete Aufmerksamkeit begann, kurz nachdem er sich gegenüber dem russischen Sender "REN TV" zu den Gewalttaten der Kölner Silvesternacht geäußert hatte. Hunderte Frauen waren von jungen Männern aus dem arabischen und dem nordafrikanischen Raum sexuell belästigt und bestohlen worden. "Wenn sie (die jungen Frauen, die Red.) halb nackt rumlaufen und Parfüm tragen, ist es nicht überraschend, dass solche Dinge passieren." So hat "REN TV" Recherchen der DW zufolge die Äußerungen Sami Abu-Yusufs ins Russische übersetzt.

Lost in Translation

In dieser Version fühlt Sami Abu-Yusuf sich falsch verstanden. Er habe etwas anderes sagen wollen, erklärte er der Kölner Zeitung "Express". "Es waren Frauen leicht bekleidet und sie trugen Parfüm, als sie durch die betrunkene Menge liefen. Das war für einige Nordafrikaner Anlass, die Frauen zu begrapschen. Das heißt aber nicht, dass ich glaube, dass Frauen sich nicht so kleiden dürfen. Jeder hat das zu akzeptieren. Und wem das nicht passt, der muss in ein anderes Land gehen."

Ob er das auch dem russischen Sender in dieser Form gesagt hat, ermittelt nach einer Strafanzeige des Kölner Bundestagsabgeordneten Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen nun die Polizei.

Teile der deutschen Öffentlichkeit neigen nach den Übergriffen der Silvesternacht dazu, Attacken auf junge Frauen auf den Islam zurückzuführen. Damit liegen sie nicht ganz falsch. Und dass sie nicht falsch liegen, geht wiederum auf den Islam selbst zurück, genauer: Nicht ein inhärent sexistisches Gedankengut, sondern dessen fehlende hierarchische Strukturen.

DW-Redakteur Kersten Knipp (Foto: DW)
DW-Redakteur Kersten Knipp

Um es ganz klar zu sagen: Die große Mehrheit der Muslime verabscheut die Vorfälle der Silvesternacht. Trotzdem bleibt das Problem, dass die Angriffe im Islam nicht von höchster Stelle verurteilt werden - und auch nicht verurteilt werden können.

Pervertierte Deutung der Religion

Solange es nämlich insbesondere auf Seiten der Sunniten keine dem katholischen Papst vergleichbare Autorität gibt, keine für alle Gläubigen verbindliche Auslegung des Islam, solange blüht der theologische Wildwuchs.

Wo der hinführt, zeigt ein Blick nach Saudi-Arabien, der selbsternannten Führungsmacht der sunnitischen Welt. Dort betreibt der Religionsgelehrte Muhammad Salih Al-Munajjid eine salafistische Website, die zu den zehn meistgeklickten Seiten dieser Richtung gehört. Dort wurde Al-Munajjid kürzlich von einem User gefragt, ob verheiratete Muslime Sex mit sogenannten "Sklavinnen" haben dürften - eine zynische Bezeichnung für die dort als Hausmädchen arbeitenden Asiatinnen. Die Antwort des Religionsgelehrten: Ja, selbstverständlich, daran bestehe kein Zweifel.

Theologie des Unterleibs

Eine solche pervertierte Theologie des Unterleibs bildet auch eine der Geschäftsgrundlagen der Terrororganisation "Islamischer Staat". Die gestattet ihren Angehörigen, ungestraft Frauen vergewaltigen zu können - Jesidinnen, aber auch andere gefangene Frauen. Die IS-Mitglieder behaupten, sie täten das mit dem Segen Gottes.

Zynische Ideologen, die ihre Verbrechen mit der jeweiligen Heiligen Schrift rechtfertigen, gibt es freilich auch in anderen Religionen. In Uganda wollte der brutale Schlächter Joseph Kony mit seiner Lord's Resistance Army, der Widerstandsarmee des Herrn, einen Gottesstaat auf christlicher Grundlage errichten. Und in Chile versprach der ehemalige deutsche Jugendpfleger Paul Schäfer den Anhängern der Colonia Dignidad ein "urchristliches Leben im Gelobten Land." Regelmäßige sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder zählte für ihn ganz selbstverständlich dazu.

Zurück zum IS. Dem begegnet die allergrößte Mehrheit der Muslime mit Abscheu. Viele Imame haben dessen Taten verurteilt. Aber der Umstand, dass insbesondere im sunnitischen Islam eine höchste, für alle Gläubigen verbindliche Lehrautorität fehlt, lässt beliebig viele Deutungen zu.

Die Kehrseite der "Ambiguitätstoleranz"

Das ist die Kehrseite jener Praxis der religiösen Vieldeutigkeit, die in der deutschen Islamwissenschaft derzeit als "Ambiguitätstoleranz" gepriesen wird. Die große Interpretationsfreiheit, die noch die fragwürdigsten Imame genießen, kann eben auch in ausgesprochen düstere Richtungen führen. Ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit ist darum sehr besorgt.

Mag sein, dass Sami Abu-Yusuf falsch übersetzt worden ist, er die Ereignisse dieser Nacht nicht legitimieren, sondern nur dazu beitragen wollte, deren Dynamik zu verstehen. Darum ist es gut, dass die Polizei nun ermittelt. Aufklärung, und zwar weit über den konkreten Fall Köln hinaus, ist Deutschland seinen Muslimen schuldig. Vor allem aber seiner Identität als Rechtsstaat. Hassprediger hinter frommer Maske duldet er nicht.


Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika