Kommentar: Unschlagbar? Eine Illusion!
16. Juli 2014Im Moment des größten Glücks sind wir manchmal nicht ganz Herr unserer Sinne. Dies gilt sogar für den Fußball-Kaiser, den eigentlich eine Aura der Unfehlbarkeit umweht. Vor 24 Jahren war so ein Moment. Deutschland hatte sich gerade eben gegen Argentinien seinen dritten Stern geholt, da sagte der damalige Franz Beckenbauer im Überschwang seiner Gefühle: "Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein. So leid mir das für den Rest auch tut." Welch Fehleinschätzung. Ja, in der Tat hatte sich die DFB-Elf gerade verdient den WM-Titel geholt und ja, mit der Wiedervereinigung und dem damit verbundenen Zusammenschluss zweier Nationalteams sah es ganz gut aus. Aber Deutschland blieb schlagbar, 1992 im EM-Endspiel demonstriert durch Underdog Dänemark und 1994 noch schmerzlicher bewiesen durch Bulgarien im WM-Viertelfinale. Eine schwere Fehleinschätzung des "Kaisers", für die sein Nachfolger Berti Vogts bezahlen musste.
Joachim Löw machte diesen Fehler nicht. Vielleicht schon deshalb, weil er diese Suppe dann selbst auslöffeln müsste. Denn nachdem das Präsidium sich bereits klar für seinen Verbleib ausgesprochen hat und Löw noch einen Vertrag bis 2016 besitzt, spricht viel dafür, dass er weiterhin Bundestrainer bleibt. Er wählte in der Stunde des Triumphes vorsichtigere Töne als Beckenbauer: "Wir haben viele junge Spieler, die in ihrer Karriere noch viel erreichen zu können", meinte Joachim Löw - und da kann man ihm nur Recht geben.
Von hinten drängen schon weitere Talente nach
Denn Löws WM-Kader war zu Turnierbeginn im Durchschnitt gerade einmal 25,8 Jahre alt, sieben seiner Spieler waren beim vorletzten WM-Sieg anno 1990 noch gar nicht geboren. Und selbst hinter diesen hoffnungsvollen Nachwuchskräften lauern bereits weitere große Talente, genannt seien nur Serge Gnabry vom FC Arsenal, Marian Sarr von Borussia Dortmund, Max Meyer vom FC Schalke oder Julian Brandt vom VfL Wolfsburg. Angesichts dieser Fülle an fußballerischem Potential wird klar: Der deutsche Fußball darf optimistisch nach vorne schauen - und auch mit etwas Stolz zurück.
2004 lag der Fußball hierzulande, wie es Joachim Löw richtig formulierte, am Boden. Deutschland schied bei der EM in Portugal blamabel in der Vorrunde aus. Längst hatten andere Nationen auf- und überholt. "Deutsche Tugenden" allein reichten nicht mehr, denn rennen und kämpfen konnten auch andere. Dann leiteten Jürgen Klinsmann, Joachim Löw und Oliver Bierhoff eine regelrechte Fußballrevolution ein, die von den Bundesligavereinen erst etwas widerwillig, dann aber sehr bereitwillig unterstützt wurde: Man setzte auf die konsequente, strukturierte und ganzheitliche Ausbildung des Fußballnachwuchses. Es war der einzig richtige Weg, um den Deutschland andere Fußballnationen wie England heute beneiden.
Ein Teil der Lorbeeren gehört den Amateurfußball
Den WM-Titel sieht Löw nun auch als "ein Produkt der hervorragenden Ausbildung in Deutschland" und gibt so einen Teil der Lorbeeren an die weiter, die das Rückgrat dieses Sports bilden: die Tausenden Vereine mit ihren ehrenamtlichen Trainern und Betreuern. Allzu oft im Schatten des Hochglanzbetriebes Bundesliga stehend, hat sich der Jugend- und Amateurfußball diese Anerkennung redlich verdient.
Und so blickt Deutschlands Fußball tatsächlich den in diesen Tagen so viel beschworenen goldenen Zeiten entgegen - nur anders als das manch einer vielleicht denkt. Denn unschlagbar zu sein, ist eine Illusion im Fußball, einem Sport, der immer wieder auch durch die Faktoren Glück, Zufall und Tagesform entschieden wird. So waren es im Verlaufe dieses Turniers manchmal Zentimeter, um die DFB-Keeper Manuel Neuer gerade noch rechtzeitig kam, um ein sicheres Gegentor zu verhindern. Und hätten Lionel Messi und Gonzalo Higuain bei ihren zahlreichen Chancen im Finale etwas mehr ihre gewohnte Treffsicherheit gezeigt, wäre Deutschland jetzt vielleicht nicht vierfacher Weltmeister. Wer dies realisiert, wird spätestens nach den Tagen des Weltmeisterrausches erkennen, dass Erfolg eine Frage vieler kleiner Details ist, die zusammen das große Glück ergeben können - aber nicht müssen. Deutschland wird auch in den kommenden Jahren tollen Fußball spielen - aber deswegen noch lange nicht automatisch alle Titel gewinnen. Stimmt's, Herr Beckenbauer?