Eine alte Grundsatzfrage ist mit dem jüngsten Bundeswehr-Skandal wieder hochgekommen. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sorgte während ihres Besuchs bei der deutsch-französischen Brigade im elsässischen Illkirch in dieser Woche für Klarstellung: "Die Wehrmacht ist in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr. Einzige Ausnahme sind einige herausragende Einzeltaten im Widerstand", erklärte von der Leyen.
Und dann folgte eine doch merkwürdige Erläuterung, welche diese Klarstellung zu den in Illkirch präsentierten Wehrmachtsdevotionalien in Relation setzte: Da betonte die Ministerin, die Wehrmachtsexponate seien vor allem deshalb besonders fragwürdig, weil ja das betreffende Jägerbataillon erst im Jahr 2010 aufgestellt worden sei. Also 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Als ob dieser Skandal irgendwie verständlicher gewesen wäre, wenn die Traditionslinie der Einheit schon in den 1950er- oder 1960er-Jahren begonnen hätte.
Die Bundeswehr und ihre Tradition
Die Bundeswehr entstand Mitte der 1950er-Jahre im Zuge der West-Bindung der Bundesrepublik. Der politische Schlüssel und das Selbstverständnis war stets die Prägung als demokratische Armee von mündigen Bürgern. Aber dennoch gab es breite personelle Kontinuität: Ein gehöriger Teil der ersten Offiziersgeneration der Bundeswehr hatte bereits in der Wehrmacht unter Hitler gedient. Es wäre gleichwohl falsch, da von einer Traditionsstiftung zu sprechen. Aber es bedurfte doch einer zähen, oft journalistischen Aufarbeitung späterer Jahre, um zu zeigen, was diese personellen Kontinuitäten konkret bedeuteten.
Der Vorgang um den Oberleutnant Franco A. und die Tatsache, dass die Informationen oder das Erschrecken über seine Gesinnung (und vielleicht auch die mancher Kameraden) viel zu lange unter der Decke bleiben konnten, wirft aber ein kritisches Licht auf die Abschaffung beziehungsweise - so die offizielle Sprachregelung - "Aussetzung" der Wehrpflicht. Dieser Schritt, von Karl-Theodor zu Guttenberg, Minister von 2009 bis 2011, geradezu in Hurra-Stimmung beworben, sorgte letztlich für eine grundlegende Veränderung der Struktur der Armee. In jüngerer Zeit kommen angesichts des Ukraine-Konflikts sowie der wachsenden internationalen Herausforderungen Zweifel auf, ob der Schritt richtig war.
Doch "Illkirch" offenbart ein ganz anderes Defizit: Die Wehrpflicht, die bald nach der Gründung der Bundeswehr 1955 gesetzlich verankert wurde, resultierte auch aus einer dunklen historischen Erfahrung. Reichswehr und Wehrmacht waren zumindest teilweise "Staat im Staate", mit ganz eigenen Macht- und Kommunikationswegen. Das Modell der Wehrpflicht orientierte sich dagegen am Konzept des "Bürgers in Uniform", den die Innere Führung prägen konnte. Nach der Abschaffung der Wehrpflicht sagte der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland kritisch, Rechtsradikale könnten "versuchen, die Bundeswehr zu infiltrieren". Das war erst vor gut fünf Jahren und wurde damals von sogenannten "Experten" belächelt. Schon weit früher gab es Mahnungen, mit der Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht werde die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft um so wichtiger.
Die Wehrpflicht brachte auch kritische Geister in die Armee
Was das mit Illkirch zu tun hat? Die Wehrpflicht sorgte dafür, dass auch eher kritische Geister Teil der Truppe waren. Wen damals etwas störte, der konnte sich eher aufmüpfig zu Wort melden - er wollte in dem Laden ja keine Karriere machen. Im Idealfall war die Wehrpflicht-Armee eine überparteiliche Truppe quer durch alle soziale Schichten und Bildungsmilieus. Sie erlitten oder erlebten gemeinsam die ein bis eineinhalb Jahre in Uniform als Schmelztiegel.
Wer hingegen in Illkirch stationiert ist, will in den meisten Fällen in der Bundeswehr noch etwas werden. Da schaut man gerne weg, um nicht anzuecken. Dabei fand doch die skandalöse Verehrung falscher Tradition in einem "Gemeinschaftsraum" statt, der vielen zugänglich war.
Sicher - das Parlament wird die Aussetzung der Wehrpflicht nun nicht in Frage stellen. Aber ein neues Nachdenken über die Prägung der Bundeswehr darf diesen Aspekt nicht ausblenden. Ursula von der Leyen sprach diese Woche von einem nun notwendigen "langen Prozess" der Aufarbeitung. Vielleicht braucht die Bundeswehr auch einen neuen Prozess des Nachdenkens über ihre gesellschaftliche Einbindung.
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