Kommt das Lukaschenko-Regime vor Gericht?
21. Mai 2021Diese Woche wurde dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ein Paket von Akten zur vorgerichtlichen Prüfung vorgelegt. Anhand dieser Akten soll über eine strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen entschieden werden, die von der belarussischen Führung in den letzten Jahren begangen wurden. Die Akten basieren auf den Geschichten Betroffener, die unter dem Druck der Behörden Belarus verlassen mussten.
Zusammengetragen wurde das Material von den vier NGOs International Partnership for Human Rights (IPHR, Brüssel), Norwegisches Helsinki-Komitee, Global Diligence (London) und Truth Hounds (Ukraine). In ihrem Namen wurde die Sache dem Gericht übergeben. Als Zeugin trat dabei Natalja Koljada auf, eine der Gründerinnen des Belarussischen Freien Theaters.
Ihr Ehemann, der Journalist und Mitbegründer des Theaters, Nikolaj Chalesin, sagte im Gespräch mit der DW, ursprünglich sei eine Klage im Namen von Nachbarländern von Belarus geplant gewesen, in die verfolgte Belarussen geflohen sind. Als Grundlage dafür sollte den Aktivisten ein Beispiel aus dem Herbst 2019 dienen. Damals hatte sich der IStGH bereit erklärt, Verbrechen gegen Rohingya-Muslime aus Myanmar zu verfolgen, die massenhaft in das benachbarte Bangladesch geflohen waren. Ein Präzedenzfall, meint Chalesin, da Myanmar, wie Belarus, nicht unter die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs falle. Bangladesch hingegen habe das Römische Statut im Jahr 2010 ratifiziert. Daher habe sich der IStGH für diese Sache zuständig befunden.
Das Römische Statut ist die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, der seine Tätigkeit 2002 aufnahm und dem sich 123 Staaten angeschlossen haben. So wurde erstmals ein ständiges Gericht geschaffen, durch das besonders schwere Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen weltweit verfolgt werden können, soweit sie nach der Gründung des IStGH begangen wurden.
Um die Belarus-Sache zu beschleunigen und die Verbrechen der belarussischen Führung vor den IStGH zu bringen, habe man sich letztlich gegen langwierige Gespräche mit Nachbarländern entschieden und mit NGOs zusammengearbeitet, erläuterte Chalesin. Durch die Einbeziehung von Zeugen, die der Öffentlichkeit aus den Medien bekannt seien, wie Natalja Koljada, solle die Sache größere Aufmerksamkeit bekommen.
"Verbrechen gegen die Menschlichkeit über viele Jahre"
Chalesin erinnerte daran, dass er und seine Frau nach den belarussischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010, denen massenhafte Repressionen gegen Andersdenkende folgten, ihre Heimat verlassen mussten. Die dem Gericht in Den Haag nun vorgelegten Akten beziehen sich Chalesin zufolge nicht nur auf die jüngste Verfolgung Oppositioneller, die nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 begannen. "Das ist keine Geschichte des letzten Jahres, sondern es handelt sich um systematische Menschenrechtsverletzungen und systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit über Jahre", fügte Chalesin hinzu, der heute in London lebt und arbeitet.
Die Akten dokumentieren seinen Angaben nach Hunderte Fälle von Belarussen, die heute im Exil sind. Sie umfassen sowohl "schriftliche als auch audiovisuelle Beweise sowie Fakten aus offenen Quellen", so Chalesin. Sie alle würden eine erzwungene Emigration, darunter von Anführern der Protestbewegung, und Verbrechen gegen die Menschlichkeit belegen. "Es gibt Verbrechen, wo Familienmitglieder und Kinder unter Druck gesetzt wurden, um Angehörige zu erpressen, wie im Fall von Tichanowskaja", ergänzte Chalesin. Swetlana Tichanowskaja musste im August 2020 Belarus verlassen - unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen, bei denen sie als Kandidatin angetreten und zur Hauptgegnerin von Alexander Lukaschenko aufgestiegen war. Heute lebt sie in Litauen.
Kann Lukaschenko in Den Haag vor Gericht kommen?
Wenn die Kammer nach den vorgerichtlichen Anhörungen des IStGH beschließt, diesen Fall ins Rollen zu bringen, dann können sich nicht nur NGOs, sondern auch Länder der Klage noch anschließen. Dann könnte es auch um mehr als die erzwungene Emigration von Belarussen gehen, sagte Chalesin. Aber bestehen überhaupt Chancen, dass der IStGH auf Ersuchen von vier NGOs ein Strafverfahren einleitet? Letztlich kann das Gericht in Den Haag formell keine Verbrechen prüfen, die auf dem Gebiet von Belarus verübt wurden, da Minsk den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennt.
Um ein Verfahren zu eröffnen, ist eine spezielle Resolution des UN-Sicherheitsrates erforderlich. Doch Russland und China, die Lukaschenko gegenüber freundlich gesinnt sind, könnten sie leicht blockieren. Trotzdem sieht Chalesin Chancen für ein Strafverfahren. "Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates ist erforderlich, wenn es um Verbrechen geht, die beispielsweise nur auf dem Gebiet von Belarus begangen wurden", sagte er und fügte hinzu, sollten jedoch Nachbarländer involviert sein, die das Römische Statut ratifiziert hätten, dann könnte man sich auf den Präzedenzfall der Rohingya-Muslime berufen.
Da Chalesin und seine Anhänger zudem überzeugt sind, dass in allen den Richtern in Den Haag vorgelegten Fällen eine Straftat vorliegt, sind sie zuversichtlich, dass der IStGH ein Verfahren einleiten wird. "Ich sehe keine Hindernisse dafür. Eine andere Sache ist, dass dies ein ziemlich langwieriges Verfahren ist, worauf wir uns eingestellt haben", so Chalesin. Er will an der Sache aber auch dann festhalten, wenn sich zum Beispiel noch in diesem Jahr in Belarus die Lage ändern und Alexander Lukaschenko die Macht verlieren sollte.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk