Kreative Proteste in Hongkong eskalieren
31. August 2019In der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong wird die Lage zunehmend unübersichtlich. Nach einem Demo-Verbot hatten Zehntausende sich zu kreativen Protest-Alternativen verabredet. Am späten Samstagnachmittag (Ortszeit) setzten Sicherheitskräfte ihre Drohung um, die Zusammenkünfte notfalls gewaltsam aufzulösen und setzten auf der Straße vor dem Polizeihauptquartier Wasserwerfer, Tränengas und Pfefferspray ein. Außerdem wurde ein Wasserwerfer mit blauer Farbe aufgefahren, der dazu dienen könnte, Aktivisten nachträglich festzunehmen.
Auch von Seiten der Demonstranten schlugen friedliche Märsche zunehmend in einzelne gewaltsame Aktionen um; Pflastersteine wurden geworfen, es gibt auch Berichte über Molotow-Cocktails. Einige von ihnen durchbrachen die Absperrungen vor dem Parlament und versuchten, das Gebäude zu stürmen. Die mehrheitlich Peking-freundliche Versammlung war Anfang Juli schon einmal gestürmt worden.
Kreative Proteste
Begonnen hatte der Protest auf kreative Weise, um ein Demonstrationsverbot zu umgehen: Mittags versammelten sich mehrere Tausend Menschen zu "religiösen Veranstaltungen" in schwarzen T-Shirts, wie sie von der Demokratiebewegung getragen werden. Einige hatten Kreuze dabei oder sangen "Halleluja" und andere geistliche Lieder. "In Hongkong gilt Religionsfreiheit", sagte eine christliche Demonstrantin der Nachrichtenagentur Reuters. "Wir beten an verschiedenen Kontrollpunkten, wir beten dafür, dass in Hongkong Gerechtigkeit einzieht. Wenn sie uns wegen unserer Gebete verfolgen, verletzen sie unsere Religionsfreiheit." Religiöse Zusammenkünfte stehen in Hongkong unter weniger strengen Vorschriften als politische Demos.
Weitere Demonstranten gingen auf "Shopping-Tour" und überfüllten flashmob-artig die zentralen Einkaufsstraßen der Innenstadt. Viele trugen schwarze T-Shirts und hatten bunte Regenschirme aufgespannt - auch als Sichtschutz gegen Polizeikameras -, manche maskierten ihr Gesicht. Die U-Bahn-Verbindungen in der Stadt wurden wegen erwarteter "öffentlicher Aktivitäten" teilweise unterbrochen.
Die Demonstranten koordinieren ihre Aktionen über verschlüsselte Messenger-Apps. Es gilt das Motto "seid wie Wasser", also formlos, aber unaufhaltsam.
Symbolträchtige Kundgebung unterbunden
Eigentlich hätte am Samstag ein Protestzug an den fünften Jahrestag des Scheiterns der Wahlreform 2014 erinnern wollen. Aus dem Ereignis hatte sich damals die "Regenschirmbewegung" gegründet, die bis dahin größte Demokratiebewegung Hongkongs, die die Finanzmetropole wochenlang lahmgelegt hatte. Die Hongkonger setzten damals Regenschirme ein, um sich vor Sonne und Regen, aber auch vor dem Pfefferspray der Polizei zu schützen.
Die Absage der neuerlichen Veranstaltung hatte die Polizei mit Sicherheitsbedenken begründet. Die Organisatoren der Civil Human Rights Front (CHRF) zogen ihren Aufruf daraufhin zurück, weil eine illegale Versammlung vermutlich rechtliche Konsequenzen für die Teilnehmenden gehabt hätte.
Weitere Festnahmen
Offenbar politisch motivierte Festnahmen heizten zuletzt die aufgeladene Stimmung in der Stadt zusätzlich an. Am Samstag sind weitere Fälle bekannt geworden: Lokale Medien berichten, dass die beiden oppositionellen Abgeordneten Au Nok-hin und Jeremy Tam bereits am Freitag aufgegriffen wurden. Ihnen wird Behinderung der Polizei vorgeworfen. Der Abgeordnete Au soll außerdem einen Polizisten angegriffen haben. Ebenfalls am Freitag festgesetzte Aktivisten waren noch am selben Tag gegen Kaution freigekommen. Darunter waren auch der bekannte frühere Studentenführer Joshua Wong und seine Mitstreiterin Agnes Chow.
Greift China weiter durch?
In Hongkong kommt es seit Juni immer wieder zu Protesten, die die Kundgebungen von 2014 weit übertreffen - an mehreren Tagen beteiligten sich weit mehr als eine Million Menschen. Dabei geht es inzwischen recht grundsätzlich um Demokratie und Meinungsfreiheit in der chinesischen Sonderverwaltungszone, die Peking bis 2047 unter dem Schlagwort "ein Land, zwei Systeme" eigentlich garantiert hatte. Viele Bewohner der früheren britischen Kronkolonie sind jedoch der Ansicht, dass die chinesische Zentralregierung diese garantierten Rechte bereits seit Jahren immer weiter aushöhlt. An einem Gesetzesvorhaben, nach dem in Hongkong festgenommene Personen grundsätzlich nach Festland-China ausgeliefert werden können sollten, hatten sich die Proteste entzündet. Hongkongs chinafreundliche Regierungschefin Carrie Lam erklärte das Gesetz inzwischen für "tot". Der Forderung der Demonstranten, den Entwurf auch formal zurückzuziehen, kam sie jedoch nicht nach.
Zuletzt haben die Sicherheitskräfte ihre Gangart deutlich verschärft.
Berichte: Neue chinesische Truppen an Grenze zu Hongkong verlegt
In dieser Woche soll bei Ausschreitungen erstmals ein Schuss gefallen sein. Die Aktivisten fordern seit Wochen einen Dialog über Polizeigewalt und eine Aufarbeitung der Vorfälle. Seit Wochen sind bereits große Militärverbände in Hongkongs Nachbarstadt Shenzhen stationiert. Offenbar hat das chinesische Militär nach Berichten in Staatsmedien weitere paramilitärische Kräfte nach Shenzhen verlegt. In Videoaufnahmen, die von Bürgern aufgenommen worden sein sollen, waren Militärwagen zu sehen, die nach diesen Angaben an diesem Samstagmorgen in der Grenzstadt einrollten. Details über Stärke und Zweck der Truppenverlegung wurden nicht genannt. Nach Angaben der Zeitung "Gobal Times" soll es sich um "Spezialkräfte" und Personal der "Wujing" genannten paramilitärischen Polizei handeln. Diese Elitetruppe des Militärs wird in China zum Schutz der inneren Sicherheit und auch zur Bewachung von Regierungsstellen eingesetzt.
Beobachter befürchten, dass der Druck aus Peking, die Proteste zu beenden, noch wachsen könnte: Am 1. Oktober sollen große Feierlichkeiten mit einer riesigen Militärparade in der Hauptstadt stattfinden, um an die Gründung der Volksrepublik vor 70 Jahren zu erinnern.