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Kriegsfantasien in Russland

Roman Goncharenko4. Dezember 2015

Eine Rockband singt über die Einnahme von Berlin, Politiker und Medien drohen mit einem Atomschlag - kriegerische Rhetorik ist im heutigen Russland verbreitet. In der Gesellschaft ist die Stimmung jedoch anders.

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Russland Roter Platz Militärparade (Foto: KIRILL KUDRYAVTSEV/AFP/Getty Images)
Bild: Getty Images/AFP/K. Kudryavtsev

Die beliebte russische Rockband Va-Bank stellte am Mittwoch ein neues Musikvideo vor. Es heißt "Und danach Berlin" und ist eine Coverversion des Songs "First we take Manhattan" des kanadischen Sängers Leonard Cohen aus den 1980ern. Der russische Text enthält aktuelle politische Botschaften. Es werden westliche Sanktionen, die Krim und der Sowjetdiktator Stalin erwähnt, bevor es im Refrain heißt: "Wir nehmen Manhattan ein und danach Berlin."

Seit der Krim-Annexion sind Kriegs- und Eroberungsfantasien in Russland fast Alltag geworden. Man hört sie von Politikern, Journalisten und Experten. In sozialen Netzwerken kursieren apokalyptische Fotomontagen, die einen künftigen Krieg mit Europa und den USA darstellen. Auf einem solchen Bild sieht man russische Panzer im zerstörten Paris, dazu die Unterschrift: "Panzertouren in Europa".

"USA in verstrahlte Asche verwandeln"

Immer wieder wird dabei auch mit Atomwaffen gedroht. Das ist etwas, was man in Russland bisher eher vermieden hat. Als Tag des Tabubruchs gilt der 16. März 2014, als auf der von russischen Truppen besetzten ukrainischen Halbinsel Krim das international nicht anerkannte Referendum stattfand. "Russland ist das einzige Land der Welt, das wirklich in der Lage ist, die USA in verstrahlte Asche zu verwandeln", sagte im staatlichen Fernsehen der Starmoderator Dmitrij Kisseljow.

Seitdem wird die Atomkeule immer wieder geschwungen. Besonders der Rechtspopulist und stellvertretende Parlamentsvorsitzende Wladimir Schirinowskij drohte mal Kiew, mal Berlin oder Washington in Schutt und Asche zu legen. Zuletzt spielte er mit dem Gedanken, eine Atombombe ins Schwarze Meer vor Istanbul zu werfen. Dann werde die türkische Metropole von einer Riesenwelle weggespült, so Schirinowskij bei seinem Auftritt in der Staatsduma am Dienstag.

Wladimir Wolfowitsch Schirinowski (Foto: Ramil Sitdikov/RIA Novosti)
Möchte gerne Kiew, Berlin oder Washington in Schutt und Asche legen: Wladimir SchirinowskiBild: picture-alliance/dpa

Der Soziologe Denis Wolkow vom renommierten Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum hält solche Äußerungen für einen Versuch, die öffentliche Meinung zu testen. "Viel ernster ist es, wenn Putin in einem Dokumentarfilm sagt, Russland sei bereit gewesen, wegen der Krim Atomwaffen einzusetzen", sagt der Experte der DW.

Kriegserwartungen liegen in der Luft

Die "Erwartung eines Kriegs" liege in diesen Tagen in der Luft, meint dazu der Moskauer Journalist und Blogger Alexander Pluschtschew. Diese Stimmung werde vor allem in Medien verbreitet.

Der Abschuss des russischen Militärjets durch die türkische Luftwaffe an der Grenze zu Syrien Ende November scheint die Kriegsrhetorik in Russland zusätzlich zu erhitzen. Die renommierte Moskauer Zeitung Nowaja Gazeta warnte vor steigenden Risiken einer echten nuklearen Konfrontation. "Diejenigen, die zum Einsatz nuklearer Waffen als Vergeltung und nicht als Abschreckungsinstrument aufrufen, sind echte Verbrecher", schrieb die kremlkritische Zeitung am Donnerstag.

Sie appellierte an ihre Leser, eine Onlinepetition für ein Gesetz zu unterzeichnen, das öffentliche Drohungen mit Atomwaffen unter Strafe stellen würde. Eine solche Petition muss 100.000 Unterschriften bekommen, damit sich die Regierung damit befasst.

Sogar manche kremltreue Journalisten zeigen sich besorgt. Uljana Skojbeda von der Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda stellte Ende November den "Hurra-Patriotismus" im Türkei-Streit infrage. Das Wort "Krieg" höre man "aus jedem Bügeleisen", schrieb die sonst glühende Putin-Anhängerin - und fragte: "Brauchen wir diesen Krieg wirklich?". Ihre Kolumne verschwand von der Onlineseite der Zeitung wenige Stunden nach der Veröffentlichung.

Die meisten Russen sind gegen Krieg

Skojbeda drückte das aus, was wohl die meisten Russen denken. Laut Meinungsumfragen ist Krieg eine der größten Sorgen russischer Bürger. Die jüngsten Umfragen des Lewada-Zentrums zeigen, dass fast 60 Prozent im kommenden Jahrzehnt mit einem Krieg zwischen Russland und der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) rechnen. Jeder Vierte (28 Prozent) glaubt an einen bewaffneten Konflikt mit der NATO, fand das Lewada-Zentrum im November heraus. "Die meisten wollen keinen Krieg", sagt der Soziologe Wolkow. "Es gibt aber rund 20 Prozent sogenannte Falken, die für radikale und aggressive Handlungen gegen die Ukraine, den Westen, die USA und die Türkei sind." Diese Zahl sei stabil.

Die Kriegsfantasien seien in Russland nicht sehr verbreitet, sagt Jens Siegert, ehemaliger Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. "Wenn man fragen würde, wollen Sie Krieg, würden die meisten Menschen nein sagen, wir sind ja friedlich, die Russen, aber der Krieg wird uns von Außen aufgezwungen."

Jens Siegert (Foto: dpa - Bildfunk)
Staatliche Propaganda verstärkt das Gefühl einer Gefahr von Außen: Jens SiegertBild: Heinrich Böll Stiftung/Andrea Kroth

Der Politologe erinnert an die staatliche Propaganda, die seit über zehn Jahren das Bild von Russland als einer "belagerten Festung" präge. Außerdem gebe es eine "Desensibilisierung". Gewalt im internationalen Bereich werde in russischen Medien "als die Norm und nicht als die Ausnahme dargestellt", so Siegert.

Putin droht der Türkei

"Das staatlich kontrollierte Fernsehen heizt die hysterische Stimmung so sehr auf, dass es irgendwann einen schlechten Dienst erweisen wird", warnt der Blogger Pluschtschew. Die Regierung habe in solchen Fällen kaum eine Chance, den Kurs schnell zu ändern, ohne ihre "begeisterten Anhänger" zu enttäuschen. Den Konflikt mit der Türkei werde Russland "nicht ohne eine tiefe Erniedrigung des Gegners" beenden können.

In diese Richtung äußerte sich auch Putin am Donnerstag in seiner Rede zur Lage der Nation. An die Adresse der Türkeiführung im Konflikt um das abgeschossene russische Flugzeug sagte der Kremlchef, sie werde es bereuen. "Wir wissen, was wir zu tun haben", sagte Putin - ohne Details zu nennen.