In der Kritik
27. Februar 2009Der in Berlin vorgestellte 73-seitige Bericht "Diskriminierung im Namen der Neutralität" stützt sich auf umfangreiche Recherchen aus dem Jahr 2008. Insgesamt wurden 72 Personen in verschiedenen Bundesländern befragt sowie zusätzlich Interviews mit Politikern, Wissenschaftlern und Vertretern von Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen geführt. Unter den Befragten waren 34 in Deutschland lebende, muslimische Frauen, die von den Kopftuchverboten betroffen waren und sind.
Nach Aussage der Europa-Chefin der Organisation, der Juristin Haleh Chahrokh, beleuchtet der Bericht unter anderem die Auswirkungen auf das Leben dieser Frauen. "Manche haben reagiert, indem sie ihre Elternzeit verlängert haben, und nicht in den Beruf wieder eingestiegen sind, damit sie sich dieser Frage zwischen ihrer religiösen Überzeugung und ihrem Beruf nicht stellen müssen. Andere zogen aufgrund der Verbote in ein anderes Bundesland oder sogar vereinzelt ins Ausland." Ein Teil der Frauen verzichtete auf das Kopftuch, um ihren Arbeitsplatz zu behalten.
Betroffene Lehrerinnen fühlen sich ausgeschlossen
Die befragten Frauen beschreiben im Bericht, dass sie sich durch diese Gesetzgebung, durch die Entscheidung, die ihnen auferlegt wurde, teilweise entfremdet und ausgeschlossen fühlen, obwohl viele seit ihrer Geburt oder seit vielen Jahren in Deutschland leben.
Lehrerinnen, die auf dem Tragen des Kopftuchs beharren und mit Rechtsmitteln scheitern, laufen Gefahr, ihre Stelle und ihren Beamtenstatus zu verlieren. Muslimische Referendarinnen finden nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung keine Beschäftigung an staatlichen Schulen, solange sie nicht auf das Kopftuch verzichten, heißt es im Bericht von Human Rights Watch.
Nach Ansicht von Haleh Chahrokh diskriminieren diese Regelungen sowohl auf der Seite des Rechts als auch der Religion und verletzen die Menschenrechte dieser Frauen.
Schwächung des Rechts der Frauen auf Selbstbestimmung
Marianne Heuwagen, Direktorin von Human Rights Watch Deutschland, erinnerte daran, dass ihre Organisation wiederholt Staaten wie Afghanistan, Saudi-Arabien und den Iran kritisiert habe, wenn sie Frauen zum Tragen religiöser Kleidung zwingen. Doch Gesetze wie die der deutschen Länder, die Kopftuch tragende Frauen von Teilen des deutschen Arbeitsmarkts ausschließen, verletzten die gleichen internationalen Menschenrechtsstandards und würden wichtige Frauenrechte, wie das Recht auf Selbstbestimmung und die Freiheit zur Lebensgestaltung nach eigener Überzeugung, schwächen.
Dass das Kopftuch-Thema in den Fokus vieler Debatten gerückt ist, erklärte der Direktor der Deutschen Instituts für Menschenrechte, Heiner Bielefeldt, unter anderem mit einer großen Skepsis gegenüber dem Islam, wobei die hohe symbolische Aufladung der Kopftuchdebatte keine spezifisch deutsche Debatte sei.
Bielefeldt wies in seinen Ausführungen auch darauf hin, dass muslimische Frauen sich aus religiösen Gründen häufig bewusst und in Freiheit für das Kopftuch entschieden, weil es Bestandteil ihres religiösen Selbstverständnisses sei. Viele dieser Frauen machten in ihrem Verhalten keineswegs den Eindruck, generell einem traditionellen Verständnis der Geschlechterrollen verhaftet zu sein.
Außerdem machte Bielefeldt darauf aufmerksam, dass die Bewertungen durch die Gerichtsbarkeit und die NGOs, also all derjenigen, die sich mit diesem Thema schwer täten, nicht immer so eindeutig ausfielen. "Das Thema ist menschenrechtlich kompliziert, weil hier mehrere menschenrechtliche Gesichtspunkte und Normen nebeneinander stehen und potentiell in Konkurrenz zueinander geraten können."
Verbotsregelungen unverhältnismäßig
Weil das Kopftuch ein ungemein komplexes und vieldeutiges Symbol sei, werde es zumindest problematisch ist, wenn der Staat dann diese eine Deutung zum Anlass restriktiver Politik nehme, meint Bielefeldt.
Doch andererseits konnte der Menschenrechtler auch nicht verhehlen, dass es möglicherweise einen Konflikt zwischen der Religionsfreiheit der Lehrerin und der der Schülerinnen und Schüler geben könne. Dann käme man vielleicht nicht umhin, Abwägungen vorzunehmen. "Ich halte es dann auch im Einzelfall für denkbar, dass man einer Lehrerin nahelegt, auf das Kopftuch zu verzichten - je nach Konstellation. Aber im Vorfeld, ohne dass der Konflikt real aufgetreten ist, hier schon mit Verbotsregelungen zu operieren, das halte ich für nicht legitim. Ich halte es für unverhältnismäßig."
Human Rights Watch ruft die Landesregierungen auf, die Gesetze zum Verbot religiöser Kleidung und Symbole zu überprüfen und aufzuheben und ihre Gesetzgebung in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards zu bringen. Die Länder sollten insbesondere dafür sorgen, dass ihre Bestimmungen nicht nach Geschlecht oder Religion diskriminieren und dass sie die Religionsfreiheit und die freie Meinungsäußerung achten.