Zahl der Nichtwähler steigt weiter
24. Juni 2013"Nichtwähler als stärkste politische Kraft?", "Wähler gehen auf Urlaub", "Nichtwähler stellen Demokratie in Frage": Diese Schlagzeilen aus aktuellen Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Zukunftsforschers Horst Opaschowski werfen ein düsteres Licht auf die anstehenden Wahlen in Deutschland. So könnte nach Prognosen von Opaschowski die Partei der Nichtwähler bei der Bundestagswahl am 22. September die stärkste Kraft werden.
Seit den 1970er Jahren hat sich die Zahl der Nichtwähler mehr als verdreifacht. Verweigerten 1973 nur knapp zehn Prozent der Wähler das Kreuz auf dem Wahlzettel, waren es bei der letzten Bundestagswahl 2009 schon fast 30 Prozent. Bei den letzten Landes- und Kommunalwahlen waren die Zahlen noch höher. In Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern gingen über 40 Prozent nicht zur Wahl, in Schleswig-Holstein gar über 50 Prozent.
Großer Vertrauensverlust der Politiker
"Die Wahlverdrossenheit hat in Deutschland gewaltig zugenommen", bilanziert Opaschowski. Die meisten Politiker sind "nicht mehr ehrlich und vertrauenswürdig", sagt der Zukunftsforscher. Außerdem sind die Parteien "mehr am Machterhalt als am Wohl der Bürger" und Politiker "mehr an ihrer Inszenierung, als an politischen Inhalten" interessiert. Zu diesen Ergebnissen kommt Opaschowski in einer Repräsentativumfrage unter 1000 Personen ab 14 Jahren.
Bei der Studie "Nichtwähler in Deutschland" der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die rund 3500 Nichtwähler befragt hat, begründet ebenfalls die Mehrheit der Befragten ihre Wahlabstinenz mit ihrer großen Unzufriedenheit mit dem politischen Geschehen. Andere Gründe spielen nur eine untergeordnete Rolle, sagt Dietmar Molthagen, Leiter der empirischen Sozialforschung bei der FES. "Das ist insofern aber auch eine gute Nachricht, weil durch eine Änderung der politischen Angebote auch die Wähler zurückzugewinnen sind", sagt Molthagen. Viele Bürger wollen wieder zur Wahl gehen, wenn sie merken, dass die Politik sich wirklich um ihre Belange kümmere.
Verweigerung der Ärmeren
"Politiker und Bürger entfernen sich immer weiter voneinander", schlussfolgert Opaschowski. "Beide Gruppen leben in ganz unterschiedlichen Welten", sagt er. Viele Parteien schotten sich ganz bewusst ab.
Falsch ist aber die allgemeingültige Annahme, dass insbesondere die jüngeren Wähler nicht zur Wahl gehen. "Wir finden Nichtwähler in allen Altersstufen", sagt Molthagen. "Vor allem bei den Dauer-Nichtwählern finden sich viele Ältere." Auffällig bei der FES-Studie ist aber, dass viele Wahlverweigerer aus den niedrigeren sozialen Schichten stammen. "Eine soziale Schieflage im Wahlergebnis" nennt das Molthagen. "Wenn sich bestimmte Gruppen von der Wahl verabschieden, sind ihre Interessen natürlich auch weniger vertreten."
Die Reintegration der Jungen
Auch der Jugendforscher Klaus Hurrelmann bestätigt den Trend bei den jungen Wählern zur Verweigerung: Wer wenig Bildung und Geld habe, fühle sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft und glaube, dass die Politik nichts mehr an seinem persönlichem Schicksal ändern könne. Mit der Folge: kein Gang zur Wahlurne.
Mehr Bildung, politische Information und Aktionsveranstaltungen könnten helfen, sagt Hurrelmann. "Gute Erfahrungen haben Junior- und U18-Wahlen zusammen mit politischem Unterricht gebracht". Bei Juniorwahlen können Kinder und Jugendliche aller Nationalitäten unter 18 Jahren ihre Stimme abgeben. Auch in diesem Jahr findet neun Tage vor der Bundestagswahl wieder eine solche Wahl statt.
Die Lösung des Problems
Langfristig kann eine zunehmende Zahl von Nichtwählern zum Problem für die Demokratie werden, sagen die Forscher. Dietmar Molthagen von der FES sieht die Probleme vor allem in einer sinkenden demokratischen Legitimität der politischen Machthaber. "Wenn nur noch jeder Zweite zur Wahl geht, dann wählen nur noch 13 oder 14 Prozent der Wahlberechtigten eine Partei." Eine geringe Wahlbeteiligung kann Schritt für Schritt die Demokratie aushöhlen, befürchtet er. Es sei auch nicht auszuschließen, dass populistische Parteien frustrierte Wähler für sich gewinnen könnten. "Wenn man sich im europäischen Ausland umsieht, ist das ja teilweise schon gelungen."
So weit wollen Hurrelmann und Opaschowski nicht gehen. "Diese Gefahr besteht nicht. Die Leute sind heutzutage viel zu spontan. Die wollen sich nicht mehr festlegen", sagt der Hamburger Zukunftsforscher.
In Zukunft soll man die Bürger in Bürger- und Volksentscheiden aktiv in die Entscheidungsprozesse einbinden. Gleichzeitig nimmt er aber auch die Bürger in die Pflicht: "Die Bürger müssen in die Offensive gehen. Die Politiker können das nicht mehr alleine richten." Die aktuellen Beispiele der Menschen, die in Brasilien und in der Türkei demonstrieren, seien dabei genau das richtige Vorbild. Ihr Schlachtruf ist dabei im Grunde genommen: "Demokratie, bitte jetzt und nicht erst morgen!"