Kroatiens Sommermärchen
6. Juli 2018Es war nichts für schwache Nerven. Geheimfavorit Kroatien setzte sich erst im Elfmeter-Krimi gegen die Dänen durch. Den entscheidenden Strafstoß verwandelte der Barca-Star Ivan Rakitic und versetzte sein Land in Freudentaumel.
"Ganz Kroatien explodierte vor Glück", schrieb eine Tageszeitung. Fußball-Tore als Balsam für die Seele eines Volkes, das zuletzt eher pessimistisch in die eigene Zukunft blickte.
Die Wirtschaft läuft schlecht, junge Leute wandern massenweise aus, die Staatsspitze ist zerstritten, es herrscht Politikverdrossenheit - dank der WM in Russland gibt es endlich einen Grund zur Freude. Man ist wieder wer im Weltfußball - so wie 1998, als man Dritter wurde. Endlich wieder stolz sein auf das eigene Land: "In Kroatien, aber auch den anderen Staaten Ex-Jugoslawiens gehören sportliche Erfolge zum festen Bestandteil des nationalen Habitus. Sport hat eine zentrale Rolle für die nationale Identität", so Dario Brentin vom Zentrum für Südosteuropastudien an der Universität Graz.
Für Brentin ist das aber nicht weiter überraschend "wenn man bedenkt, auf wie viel man in der Region wirklich stolz sein kann im internationalen Vergleich". Denn das ist - wenig. Außer Sport gibt es kaum einen anderen Bereich in den Gesellschaften Ex-Jugoslawiens, mit dem sie international konkurrieren können.
"Das beste Sportland der Welt"
Im Fußball, Tennis, Handball oder Wasserball erzielen die Kroaten oder die Serben seit Jahren überdurchschnittliche Erfolge. Kroatien mit gerade einmal vier Millionen Einwohnern sei "das beste Sportland der Welt", schrieb neulich die Bild-Zeitung.
Die Gründe dafür sind allerdings unklar. An der guten, systematischen Sport-Förderung kann es nicht liegen - denn die gibt es kaum.
Die Euphorie ist gut für das Zusammengehörigkeitsgefühl - sie hat allerdings auch eine andere, dunkle Seite. Spätestens als die Spannung in den Schlussminuten des WM-Achtelfinals gegen die Dänen ihren Höhepunkt erreichte, verdrängten die Fans die ganzen Skandale, die im Vorfeld der WM für schlechte Stimmung sorgten.
Sie vergaßen plötzlich auch den spektakulären "Fall Zdravko Mamic", der den Fußball in Kroatien schon lange in Atem hält. Es ging endlich um Fußball, um Paraden des Torwart-Helden Danijel Subasic und nicht um kriminelle Machenschaften des mächtigen Fußballpaten.
Totalamnesie der Fans
Mamic wurde Anfang Juni in erster Instanz zu einer Haftstrafe von 6,5 Jahren verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, zusammen mit Komplizen mehr als 15 Millionen Euro bei Spielertransfers unterschlagen und rund 1,6 Millionen Euro an Steuern hinterzogen zu haben.
Luka Modric, Kroatiens Kapitän und zentrale Figur bei der WM sowie Abwehrchef Dejan Lovren sind in den Fall Mamic verwickelt. Beide waren einst für viel Geld aus Zagreb ins Ausland gewechselt. Das kroatische Gericht war überzeugt davon, das Mamic persönlich von den Transfers profitiert hat.
Zwei weitere Verfahren warten noch - es geht um Betrug, Untreue und Geldwäsche. Modric und Lovren traten im ersten Prozess gegen Mamic auf, Modric wird nun Meineid vorgeworfen. Wie die Staatsanwaltschaft in der ostkroatischen Stadt Osijek am Freitag mitteilte, wird dem 32-jährigen Mittelfeldspieler zur Last gelegt, in einem Prozess gegen Mamic und drei weiterer Angeklagten als Zeuge nicht Wahrheit gesagt zu haben. Im gleichen Zusammenhang wird auch gegen Lovren ermittelt. Im schlimmsten Fall drohen den Stars von Real Madrid und FC Liverpool Haftstrafen.
In Russland werden die Kroaten immer wieder mit der Affäre konfrontiert. Die ausländische Presse hakt nach, stellt unangenehme Fragen. Und zu Hause? Die meisten Medien werden immer leiser, je weiter die "Feurigen", wie man in Kroatien seine Fußballhelden nennt, kommen.
Fußball-besoffene Nation
Die Fußball-besoffene Nation nimmt die Beschuldigten in Schutz, denn nichts dürfe die historische Mission gefährden. Kritikern wird gar unpatriotisches Verhalten vorgeworfen, so Brentin gegenüber der DW: "Ich habe zwar nicht ganz das Gefühl, dass alle kritischen Stimmen verstummt sind, aber es scheint tatsächlich so zu sein, als hätte die nationale Hysterie die Überhand gewonnen. Sportliche Erfolge lassen sich einfach besser vermarkten in Zeiten einer erfolgreichen Weltmeisterschafts-Kampagne."
Davon profitieren auch die Reisebüros und die Banken. Die Nachfrage nach Reise-Paketen für das Viertelfinal-Spiel gegen Russland ist riesig. Alle verfügbaren Plätze sind schon belegt, hören wir im Reisebüro Elite Travel. Und dabei ist das kein billiges Vergnügen. Der Trip nach Sotschi kostet etwa 750 Euro pro Person - ungefähr ein monatliches Durchschnittsgehalt in Kroatien.
Die ärmeren Fans verschulden sich offenbar, um live dabei zu sein. Die russische Sberbank in Zagreb verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach kurzfristigen Krediten - um ganze 30 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum vor zwölf Monaten. "Die meisten Kunden sagen nicht wofür sie das Geld brauchen, einige aber erzählen uns explizit, dass sie nach Russland zum Spiel wollen", bestätigt uns Tihana Mamic von der Sberbank in Zagreb.
Mit dem Elfmeter-Drama von Nizhny Novgorod haben das kroatische Volk und die Mannschaft wieder so nah zueinander gefunden wie schon lange nicht mehr. Die Erinnerungen werden wach an die "goldene Generation von 1998" als Kroatien den 3. Platz bei der WM in Frankreich belegte.
Staatspräsidentin als oberstes Cheerleader
Die Politik weiß die derzeitige Stimmung zu nutzen. Die Staatspräsidentin inszeniert sich als oberste Cheerleader auf der Tribüne, besucht die Spieler nach dem Dänemark-Spiel in der Kabine - so wie Angela Merkel "ihre" Elf bei der WM 2014 in Brasilien.
Apropos Politik: Im Windschatten der WM werden im Land tagtäglich wichtige Entscheidungen getroffen, Gesetze verabschiedet, umstrittene Vorhaben wie die Reform der Rentenfonds auf den Weg gebracht. Das interessiert derzeit aber kaum jemanden. Die Kroaten leben im hier und jetzt. Das Russland-Spiel steht vor der Tür.
Das ganz große Ziel scheint in greifbarer Nähe zu sein. Einmal Weltmeister sein, das wäre doch was. Alles andere wird für den Moment ausgeblendet.