Berlin zeigt Kunst in der "Zerreißprobe"
18. November 2023Welche Überschrift passt am besten zur Kunst zwischen 1945 und 2000? Die Neue Nationalgalerie in Berlin wagt einen Versuch: "Zerreißprobe" nennt sie ihre neue Dauerausstellung. Diese ist - von Performance bis Pop Art - ein Ritt durch die jüngere Kunstgeschichte und zeigt das komplexe Verhältnis der Kunst zu Politik und Gesellschaft. "Zerreißprobe steht für die radikalen Auf- und Umbrüche nach 1945", sagt Mitkuratorin Maike Steinkamp.
Und wirklich, Zerreißproben gab es genug in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts – politische wie wirtschaftliche, gesellschaftliche wie künstlerische. Dazu zählen Zivilisationsbrüche wie der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, die ideologische Konfrontation zwischen Ost und West im Kalten Krieg und der Fall des Eisernen Vorhangs, um nur die gewaltigsten zu nennen. Sie alle hielten die Welt in Atem. Gleichzeitig inspirierten sie Künstlerinnen und Künstler, waren ihnen Anlass zur Reflexion, nicht selten zur Neubestimmung. Einige beschritten neue Wege.
Künstler reagieren auf schlimme Erfahrungen
Besonders deutlich wird das im Ausstellungskapitel "Existentielle Erfahrungen". Es zeigt, wie Künstlerinnen und Künstler nach 1945 auf die Schrecken des Krieges, den Kulturbruch des Holocaust reagierten – mit tiefer Verunsicherung. Angst und Zerrissenheit spiegeln sich etwa in den spindeldürren, überlangen Figuren des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti. Die unergründlichen schwarzen Löcher auf den düsteren Reliefs der US-amerikanischen Künstlerin Lee Bontecou schreien nach Orientierung, ebenso wie die surrealistische "Gliederpuppe" des Dresdner Künstlers Wilhelm Lachnit (1899-1962).
Für eine ganz andere Zerreißprobe sorgt die politische und militärische Spaltung der Welt zwischen Ost und West, das Ringen der Ideologien um Deutungshoheit und um Propaganda. Zu besichtigen ist das auch in den bildenden Künsten: Ein künstlerischer Richtungsstreit bricht aus - zwischen figurativ und abstrakt. In Westeuropa und in den USA greifen jüngere Künstlerinnen und Künstler zu neuen, abstrakten Ausdrucksformen, derDeutsche K.O. Götz (1914-2017) etwa wirft Farbe auf die Leinwand, um sie mit dem Rakel zu abstrakten, informellen Strukturen zu verwischen. Die US-Amerikaner Mark Rothko (1903-1970) und Morris Louis (1912 - 1962) malen große, teils einfarbige Farbfelder.
Kunststreit zwischen abstrakt und figurativ
In der DDR und anderen sozialistischen Ländern dagegen wird der Sozialistische Realismus aufs Schild gehoben. Er soll den werktätigen Arbeiter und Bauern zeigen, wie er ist, Staatskunst als Propaganda. Doch es gibt auch DDR-Künstlerinnen und -Künstler, die sich den politischen Vorgaben entziehen - wie etwa Harald Metzkes oder Werner Tübke (1929-2004). Und auch in vielen Ateliers des Westens lebt die figürliche Kunst weiter – etwa in den Bildern und Skulpturen Pablo Picassos (1881-1973) oder Henry Moores (1898-1986).
Im Spannungsfeld zwischen Politik und Gesellschaft findet Kunst zu ihrer Paraderolle: "Oftmals funktioniert die Kunst dann wie ein Seismograph", sagt Kuratorin Maike Steinkamp, "dass sie Tendenzen früher als anderswo aufnehmen kann." Eine nackt bis zum Umfallen tanzende Marina Abramovic etwa oder Rebecca Horn, deren eingeschnürte Nackte mit Einhorn auf dem Kopf durch die Landschaft schreitet, werden zu Pionierinnen der Befreiung der Frau. Alles das und noch viele weitere Zerreißproben zeigt die neue Dauerausstellung der Neuen Nationalgalerie, die noch bis zum Herbst 2025 zu sehen ist.