Kurs Jamaika: Mehr Bildung, mehr Sicherheit
30. Oktober 2017Der Name klang in jedem Fall nach Versöhnung und Harmonie: Bis in den späten Montagabend saßen die Spitzen von Union, FDP und Grünen bei einer "Reflexionsrunde" zusammen. Ziel der rund fünfstündigen Unterredung war es, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Sind sich die vier ungleichen Parteien in den vergangenen zwei Wochen ein Stück näher gekommen? Reicht das, um die nächste Etappe, also offizielle Koalitionsverhandlungen für eine mögliche Jamaika-Koalition einzuläuten? In großer Runde wurde mit über 50 Teilnehmern bis in die späte Nacht getagt.Eine Aussage, ob es zu offiziellen Koalitionsverhandlungen kommt, ließen sich die Sondierer aber nicht entlocken.
Die Generalsekretäre von CDU, CSU, FDP und Grünen gaben am frühen Abend einen positiven Zwischenstand durch. Nachdem am vergangenen Donnerstag bei den Streitthemen Klima und Migration die Fetzen geflogen waren, zeigen sich jetzt Kompromisslinien und eine deutlich entschärfte Rhetorik. Die Atmosphäre sei aufgeräumt, konstruktiv, "der Pulverdampf sei verflogen", so der Tenor bei allen vier Gesprächs-Parteien. Bewegung scheint es, so heißt es aus Verhandlungskreisen, auch bei den Hauptstreitthemen Klima und Migration zu geben. Demnach bekannte sich jetzt die CSU zur Erreichung der nationalen Klimaschutzziele, will diese aber durch mehr Energieeffizienz, und nicht durch eine Abschaltung von Kohlekraftwerken erreichen. Und auch das bisher stark umkämpfte Thema des Familiennachzugs für Geflüchtete, den Grüne einfordern und die Unionsparteien bislang blockierten, scheint "Verhandlungsmasse" werden zu können.
Mehr Investitionen in Bildung, Forschung und ins Netz
Ein erstaunlicher Kontrast zu vergangener Woche, als gegenseitige Vorwürfe und die Drohungen eines Scheiterns der Jamaika-Gespräche die Runde machten. Verändert wurde dies nicht zuletzt, hieß es, durch einen "Klima"-Gipfel der bayerischen Art. CSU-Chef Horst Seehofer hatte FDP-Chef Christian Lindner und die Grünen-Spitzen Özdemir und Göring-Eckardt am Vorabend in die bayerische Landesvertretung eingeladen - als vertrauensbildende Maßnahme, wie Seehofer im Anschluss verriet. "Es hat der Atmosphäre gutgetan." Auch Grünen-Spitzenfrau Göring-Eckardt wirkte erleichtert.
In diesem Geist wurde dann auch über den Tag hinweg verhandelt - mit ersten greifbaren Ergebnissen. Die Themenpalette reichte dabei von Bildung über Digitales, Arbeit und Rente bis zur Gesundheit. Keine Kleinigkeiten, aber im Rahmen dieser Verhandlungen anscheinend Felder, auf denen Kompromisse möglich sind. Denn alle vier potentiellen Jamaika-Koalitionäre wollen massiv in Bildung, Forschung und den Ausbau schneller Internetverbindungen investieren. Die Unterhändler von CDU, CSU, FDP und Grünen hielten am Montag in zwei Papieren fest, dass Deutschland bis 2025 3,5 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Bildung und Forschung aufwenden und bei diesen Ausgaben weltweit führend werden soll. Zudem sollten bis 2025 die Internetgeschwindigkeiten flächendeckend im Gigabit-Bereich liegen, hieß es weiter. Das wäre zwanzig Mal schneller als heute. "Jamaika könnte das Bündnis der digitalen Chancen sein", sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Doch wichtige Fragen blieben ausgeklammert: Wie sollen sich Bund und Länder künftig die Finanzierung der Bildung teilen? Und kann durch die Aufhebung des Kooperationsverbots, das Bildungsfragen in Deutschland zur Ländersache erklärt, auf die der Bund keinen Einfluss hat, mehr Bildung und mehr Chancengerechtigkeit erreicht werden? CSU-Generalsekretär Stefan Scheuer machte deutlich, dass für die CSU der "Erhalt der föderalen Strukturen" in Bildungsfragen nicht verhandelbar sei.
Im Bereich innere Sicherheit wurden erste Kompromisse erkennnbar. Die Unterhändler streben im Kampf gegen alle Formen des Terrorismus eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem Bund an. Die Koordinierungsfunktion von Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) solle stärker als bisher wahrgenommen werden, heißt es in einem Leitlinien-Papier. Das BfV solle auf freiwilliger Basis durch Vereinbarungen mit einzelnen Ländern den Verfassungsschutz in diesen Ländern übernehmen können. Unabhängig davon sollen Länder auch die gemeinsame Erfüllung von Verfassungsschutzaufgaben vereinbaren können. Dieser Vorschlag war auf Länderseite bisher besonders umstritten. Mehr Videoüberwachung soll das Sicherheitsempfinden der Bürger stärken; ein effektiverer Schutz der Außengrenzen ist ebenfalls konsensfähig. Auch eine bessere Ausstattung der Sicherheitsbehörden, insbesondere bei der Cyberabwehr, wäre gemeinsam machbar. Alle vier Parteien bekennen sich im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zum Mindestlohn. Im Rahmen der Jamaika-Koalitionäre ist allerdings eine Nachbesserung und Entbürokratisierung geplant.
Grünen wollen eine Koalition gegen Bildungsarmut schmieden
Die Grünen pochten im Vorfeld des Abends darauf, gegen Kinderarmut vorzugehen und den Ländern und Kommunen mehr Geld für Schulsanierungen zu überweisen. "Wir müssen es schaffen, dass der Bildungserfolg in Deutschland abgekoppelt wird von der Herkunft der Eltern, vom Beruf, vom Einkommen der Eltern", sagte Parteichef Cem Özdemir. Zudem müsse es eine bessere Bezahlung von Pflegekräften und eine bessere Absicherung für Bezieher kleiner Renten geben, sagte Göring-Eckardt. Auch Seehofer hatte angedeutet, dass die CSU Maßnahmen gegen Altersarmut wolle. Am Donnerstag soll dieses Thema angegangen werden.
Volker Wissing, Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz und Unterhändler der Liberalen, forderte vor möglichen Zugeständnissen einen weiteren "Kassensturz" ein. Denn es gebe durchaus mehr finanzielle Spielräume, als von Seiten der Union derzeit kommuniziert würde. "Wir wissen, dass mit erheblichen Steuermehreinnahmen zu rechnen ist", sagte Wissing, dessen Partei deshalb auch noch einmal über Haushaltsdisziplin, Einsparungsmöglichkeiten und die Streichung von Ausgaben der Vorgängerregierung reden wolle. Bei den Unionsparteien wird derzeit davon gesprochen, dass sich der finanzielle Spielraum für die kommenden vier Jahre auf rund 30 Milliarden Euro belaufen könnte. Der FDP-Politiker Wissing meinte dagegen, dass der Spielraum für eine neue Regierung eher bei 40 Milliarden Euro im Jahr liegen könnte, was in vier Jahren satte 160 Milliarden Euro Verhandlungsmasse ausmachen würde.
Unausgegoren wirkt auch, was rund um die Frage der Abschaffung des Solidaritätszuschlags debattiert wird. 2019 soll der offiziell abgeschafft werden, wie die Liberalen einfordern. Die Grünen und Teile der Union zeigen sich aber aufgeschlossen dafür, die Einnahmen anderweitig zu verwenden. Die Zusatzsteuer wurde nach der Wiedervereinigung eingeführt, um Mehrbelastungen durch den Aufbau Ost finanzieren zu können. Künftig könnte sie auch für strukturschwache Gebiete im ganzen Bundesgebiet umgenutzt werden.
Dauerbrenner: Wer wird was - und wenn ja, warum?
Viele Journalisten und Beobachter vertreiben sich unterdessen die Zeit und bemühen eifrig die Kristallkugel, um aus den bisher dürftigen Ergebnissen erste Schlussfolgerungen für die Verteilung der Ressorts abzulesen. Wer wird was in einer möglichen Jamaika-Koalition, und wenn ja, warum? Über diese Frage wird hinter den Kulissen begeistert spekuliert. Ganze Sondermeldungen versenden die Nachrichtenagenturen dazu, mit wenig stichhaltigen Informationen, aber mit großem Unterhaltungswert. So kursieren Gerüchte, dem künftigen Finanzministerium könnte die Zuständigkeit für die Gemeinschaftswährung Euro entzogen werden - zugunsten des Wirtschaftsministeriums. Es wird zudem über die Schaffung neuer Ministerien spekuliert, etwa der Ministerien für Digitales und für den ländlichen Raum. Und es werden erbitterte Streitgespräche zwischen den Jamaika-Partnern um die Ministerien Energie und Äußeres vorhergesagt.
Am Mittwoch, Donnerstag und Freitag finden weitere Gespräche statt. In der kommenden Woche sind vier Tage dafür eingeplant, an denen detaillierter über die bisher strittigen Themen gesprochen werden soll. "Wir müssen ja eine stabile Regierung bilden, das wollen wir. Und dazu müssen wir inhaltlich ein Zukunftsprojekt formulieren", sagte CSU-Chef Horst Seehofer dazu.