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KZ-Gedenkstätte: Unerzählte Geschichte(n)

23. November 2022

Wie blicken Jugendliche auf Konzentrationslager der Nazi-Zeit und Schicksale der Opfer? Manche setzen sich damit künstlerisch auseinander - die Ergebnisse zeigt eine Ausstellung.

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Les Oubliées heißt die rostfarbene Skulptur der Französin Laura Bigot. Zwei Frauen halten sich die Hände; sie versinnbildlichen das Schicksal der Zwangsprostituierten im früheren KZ Sachsenhausen. Im Hintergrund Teile der Lagermauer und ein Wachtturm.
"Les Oubliées" ("Die Vergessenen") heißt die Skulptur der Französin Laura Bigot, die damit an das ehemalige Bordell im KZ Sachsenhausen und das Schicksal der Zwangsprostituierten erinnern willBild: Marcel Fürstenau/DW

Die Ausstellung "Unerzählte Geschichte(n)" ist schon deshalb außergewöhnlich, weil sie dezentral konzipiert ist. Und weil die Kunstobjekte von Laien stammen. Entstanden sind die Skulpturen, Installationen und Kurzfilme im Rahmen des 2020 gestarteten Projekts "Young Interventions". Nun werden sie öffentlich gezeigt - an unterschiedlichen Orten auf dem weitläufigen Gelände der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, die zugleich ein Museum ist. Aber keine Sorge: Um sich orientieren zu können, gibt es einen nummerierten Plan.

Kunst an einem Ort mit mörderischer Vergangenheit

Man kann sich aber auch ohne Wegweiser auf Entdeckungstour begeben und überraschen lassen von den auf zehn Stationen verteilten Objekten. Das erste Kunstwerk befindet sich in Turm A, dem Eingangstor des 1936 von Gefangenen errichteten Konzentrationslagers. Auf andere stößt man beim Gang durch eine der Baracken, in denen bis zur Befreiung durch sowjetische und polnische Soldaten im April 1945 mehr als 200.000 Menschen zusammengepfercht wurden. Zehntausende starben an Hunger und Krankheiten, infolge von Zwangsarbeit, medizinischen Versuchen und Misshandlungen.

Fünf ineinander übergehende Figuren aus filigranen Stofffäden verschmelzen zu einer Masse.
"Absence" heißt die in Sachsenhausen ausgestellte Skulptur von Dorothy Ann van der Ent und Alex Rovira Lopez Bild: Marcel Fürstenau/DW

Vor diesem historischen Hintergrund trafen sich seit 2020 mehrmals internationale Gruppen von Teenagern, jungen Erwachsenen und Nachkommen KZ-Überlebender in Workshops und knüpften damit an ein früheres Projekt an. Unter professioneller Anleitung kreierten sie ihre Kunstwerke. Inspiriert durch das, was sie während ihres Aufenthalts in der KZ-Gedenkstätte über dieses grausame Kapitel des Nationalsozialismus lernten. Oder vielleicht auch schon vorher wussten.

Die Nazis degradierten Menschen zu Nummern

Dorothy Ann van der Ent und Alex Rovira Lopez stammen aus Spanien, einem Land, das in der Vergangenheit ebenfalls eine Diktatur war. "Wir waren sehr geschockt zu erfahren, wie man den Menschen hier ihre Identität genommen hat. Sie waren nur noch eine Nummer oder ein Dreieck", sagt Dorothy Ann. Gegenüber den Vorgesetzten durfte sich die Insassen in deutschen Konzentrationslagern nicht mit ihren Namen melden, sondern mussten die zugeteilte Nummer nennen. Im Vernichtungslager Auschwitz wurde sie ihnen zusätzlich in den Unterarm eintätowiert.

Dorothy Ann van der Ent (r.) und Alex Rovira Lopez, beide 21 Jahre alt, stehen im Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen vor einem Plakat mit dem Titel "Von der Erinnerung zum Monument"
Auf Spurensuche in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen: Dorothy Ann van der Ent (r.) und Alex Rovira Lopez Bild: Marcel Fürstenau/DW

Auf der linken Brustseite der gestreiften Häftlingskleidung prangte in unterschiedlichen Farben ein Dreieck aus Stoff. So teilten die Nazis ihre Opfer in Kategorien ein: Politische Gegner wurden rot markiert, Homosexuelle rosa, sogenannte Asoziale schwarz, Kriminelle grün. Bei Juden kam noch ein gelbes Dreieck hinzu. Dorothy Ann und Alex haben ihre Empfindungen angesichts dieser Unmenschlichkeit in einer dreidimensionalen Figur verarbeitet. Sie ähnelt ein wenig Turm A, durch den alle Häftlinge immer wieder gehen mussten, wenn sie von der Zwangsarbeit außerhalb des Konzentrationslagers zurückkehrten.

Schubladendenken damals und heute

Henrieix du Teilhet hat sich für sein Kunstwerk von den verschiedenfarbigen Dreiecken anregen lassen, mit denen die Häftlinge für alle sichtbar stigmatisiert wurden. In seinem Workshop habe er gelernt, "dass ohne die ganze Verwaltung dahinter die Gräueltaten nicht möglich gewesen wären". Dass Menschen aufgrund äußerer Merkmale oder politischer und sexueller Orientierung noch immer schnell in bestimmte Schubladen gesteckt werden, das möchte Henrieix gerne überwinden.

266 Dreiecke in den Farben Rot, Grün, Schwarz, Gelb, Rosa und Blau sind auf einer transparenten Kunststofffolie befestigt. Der Künstler hat seiner Installation in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen den Namen Categories gegeben.
"Categories" nennt Henrieix du Teilhet seine Installation in einer Baracke der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen Bild: Marcel Fürstenau/DW

Mit seiner Installation lädt er dazu ein, "die Perspektive zu wechseln". Wenn man sich die durchsichtige Plastikfolie mit 266 bunten Dreiecken von der anderen Seite anschaut, stellt man verblüfft fest: Alle sind weiß. Und das, sagt Henrieix, verleite vielleicht zu der Frage: "Warum denken wir noch in Kategorien und warum schließen wir noch aus?"

KZ-Häftling Jan Lemaire hat ein Tagebuch geschrieben

Der Kurzfilm "Men in Zebra" ist ein Familienprojekt von Stefan, Mischa, Milo und Lotus Lemaire aus den Niederlanden. Die Enkel und Urenkel lesen vor der Kulisse des früheren Konzentrationslagers aus den Erinnerungen ihres Groß- und Urgroßvaters Jan vor. Als Kommunist war er den Nazis, die seine Heimat im Krieg besetzt hatten, ein Dorn im Auge. Sie verschleppten ihn nach Deutschland, wo er von 1942 bis zum Kriegsende 1945 im KZ Sachsenhausen verbringen musste.

Mischa Lemaire war 2010 das erste Mal auf dem riesigen Gelände, das seit 1961 eine Gedenkstätte ist. Und er kommt immer wieder zurück. Dieses Mal, um dabei zu sein, als die Ausstellung "Unerzählte Geschichte(n)" eröffnet wird. Der auch auf YouTube und der Website "Voices of the Next Generations" zu sehende Kurzfilm ist schließlich eine Hommage an den Großvater. "Wenn Du sein Tagebuch liest und die Familiengeschichten hörst, dann verstehst Du diesen Ort viel besser", sagt Mischa.

Wie Steine in Sachsenhausen "lebendig" werden

Sein Cousin Stefan hat sich in jeder Ecke des einstigen Konzentrationslagers umgesehen. Jan Lemaire war in Baracke 52 untergebracht. Sie ist, wie die meisten anderen, nicht mehr vorhanden. Aber ihr Standort ist in Form eines Fundaments kenntlich gemacht. "Durch das Tagebuch werden die Steine hier lebendig", sagt der Enkel. Kennengelernt hat er seinen Großvater nicht mehr. Er starb im Alter von 53 Jahren.

Die vergitterten Tore des Eingangs zum ehemaligen KZ Sachsenhausen sind weit geöffnet. Im Hintergrund sind zwei Baracken und eine in den Himmel ragende Stele, die Teil der 1961 errichteten Gedenkstätte ist.
Das Eingangstor zum ehemaligen KZ Sachsenhausen - seit 1961 ist der authentische Ort eine Gedenkstätte Bild: Paul Zinken/dpa/picture alliance

Stefan und Mischa wurden erst viel später geboren, heute sind sie fast so alt wie Jan Lemaire zum Zeitpunkt seines Todes. Dank seiner Aufzeichnungen über die Jahre im KZ Sachsenhausen wissen die Familienangehörigen der dritten und vierten Generation, wie er über die Deutschen dachte. "Er hat einen großen Unterschied zwischen seinen deutschen Freunden innerhalb und außerhalb des Konzentrationslagers einerseits und den Nazis andererseits gemacht", betont Enkel Mischa.

Eine Hommage an den verstorbenen Großvater

Der Großvater habe großen Respekt vor der deutschen Sprache und Literatur gehabt, ergänzt Stefan. Als er und sein Cousin Mischa in der Ausstellung "Unerzählte Geschichte(n)" über ihren Kurzfilm reden, tun sie das zunächst in ihrer Muttersprache und übersetzen es anschließend. Damit ehren sie ihren Großvater, den sie nur aus Büchern und Erzählungen kennen. "Niederländisch an diesem Ort, umgeben von Kunst und Schönheit, die von Herzen kommt - das hätte ihm gefallen", sagt Enkel Stefan. Damit würdigt er zugleich die anderen künstlerischen Objekte, die in dem Projekt "Young Interventions" entstanden sind.

Die Ausstellung "Unerzählte Geschichte(n)" in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ist bis Ende 2023 zu sehen