Kölner Silvesternacht: wer war schuld?
31. März 2017Deutschland auf dem Höhepunkt der Willkommenskultur, die schon damals immer häufiger Flüchtlingskrise genannt wurde: Täglich kommen tausende Migranten über die Grenze; die Unterkünfte sind voll; Behörden sind überfordert; Kritiker sprechen von einem Kontrollverlust des Staates. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel hält unbeirrt an ihrer Politik der offenen Tür fest, ebenso wie alle im Bundestag vertretenen Parteien - abgesehen von der bayerischen CSU. Selbst die rotgrüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen steht hinter der Linie Merkel.
Das Letzte, was die gesamte deutsche Politik in dieser Situation brauchen kann, ist genau das, was in der Silvesternacht 2015/16 um den Kölner Hauptbahnhof geschieht: Hunderte junge Männer, die allermeisten aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum, machen Jagd auf Frauen, belästigen und bedrängen sie sexuell, bestehlen sie - und das unter den Augen der Polizei, die mit zahlreichen Beamten rund um den Bahnhof im Einsatz ist.
Es war ein Versagen auf ganzer Linie, und es änderte die Stimmung im Land grundlegend, was die Haltung zur Willkommenskultur angeht, was das Sicherheitsgefühl betrifft, aber auch hinsichtlich der Rolle der Medien, die anfangs oft sehr zögerlich über die Herkunft der Täter berichtet hatten. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat seitdem mehr als 1200 Strafanzeigen entgegengenommen, fast die Hälfte betreffen Sexualdelikte. Nur sehr wenige Täter wurden verurteilt, meist wegen Diebstahls oder Hehlerei.
Die Einschätzungen gehen weit auseinander
Wie konnte es zu den Vorfällen kommen? Hätte man sie verhindern können? Wer ist politisch dafür verantwortlich? Im Kreuzfeuer stand von Anfang an vor allem Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger von der SPD. Man habe das Geschehen "gründlich aufgearbeitet", sagte Jägers Parteifreund im Ausschuss, Hans-Willi Körfges. In der Tat, der Ausschuss hat eine Mammutaufgabe hinter sich: 61 mal über einen Zeitraum von über einem Jahr haben die Mitglieder getagt, dabei fast 200 Zeugen vernommen; der Bericht ist weit über tausend Seiten dick. Aufgearbeitet wurden die Ereignisse also schon. Doch bewertet werden sie unterschiedlich.
Denn wie fast immer bei politisch zusammengesetzten Untersuchungsausschüssen folgt die Bewertung der Silvesternacht der Parteipolitik. Dazu kommt noch, dass in Nordrhein-Westfalen im Mai ein neuer Landtag gewählt wird; da schenken sich die Parteien erst recht nichts. Wer in so einer wichtigen Frage wie der der inneren Sicherheit als Versager dasteht, ginge arg geschwächt in die Wahl. Daher sehen, grob gesagt, die Obleute der Regierungsparteien SPD und Grüne im Ausschuss kein wirkliches Fehlverhalten der Landesregierung, aber auch die Piratenpartei schließt sich dieser Sichtweise an. Sie setzten sich auch mit ihren Formulierungen in der Schlußversion durch. Dagegen halten die Ausschussmitglieder der Oppositionsparteien CDU und FDP der Landesregierung und speziell Innenminister Jäger schwere Versäumnisse vor. Ihre Kritik brachten sie in zusätzlichen Passagen des Berichts zum Ausdruck, weil sie im eigentlichen Text überstimmt wurden.
"Durch den Untersuchungsausschuss zweifellos ermittelte Tatsachen werden schlicht verschwiegen, um den Innenminister aus der Schusslinie zu nehmen", klagte Ina Scharrenbach, die Obfrau der CDU. Textpassagen seien gestrichen und geschönt worden; sie sprach von "täuschen, tricksen und verheimlichen". Der FDP-Obmann Marc Lürbke war zurückhaltender, warf den Regierungsparteien aber ebenfalls vor, sie seien "nicht bereit, offen und ehrlich Fehler zu benennen". Grünenobmann Matthias Bolte kommt dagegen zu dem Schluss: "Es erscheint zweifelhaft, ob die Übergriffe zu verhindern gewesen wären. Basierend auf der Einschätzung zum Zeitpunkt der Einsatzplanung war die Einsatzkonzeption lagegemäß."
Empfehlungen für die Polizei
Solange sich die Bewertung dagegen im Ungefähren bewegt, können sie alle Parteien unterschreiben: Von polizeilichen Fehlern bei Führung, bei Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen Behörden ist da die Rede, aber auch von fehlerhafter Koordinierung zwischen Landes- und Bundespolizei. Auch besteht Einigkeit darin, dass die Polizei zu spät erkannt habe, dass die Situation außer Kontrolle zu geraten drohte. Es wäre "ein möglichst rasches und vor allem frühzeitiges Eingreifen der Polizei und sonstiger Schutz- und Ordnungskräfte erforderlich gewesen", heißt es zum Beispiel. Auch hätten die Ordnungskräfte erste Straftaten konsequent verfolgen und frühzeitig Sperren errichten sollen.
In einer Handlungsempfehlung wird der Polizei geraten, in Zukunft schwerwiegende Gruppendelikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung in ihrem Lagebild aufzuführen. Auch sollten die Beamten durch entsprechende Fortbildung für den Umgang mit den Opfern sexueller Gewalt sensibilisiert werden. Viele Frauen hatten sich beklagt, sie seien von den Polizisten im Stich gelassen worden.
SPD-Obmann Körfges sieht in dem Abschlussbericht "massive Kritik" an der Stadt Köln, der Kölner Polizei und der Bundespolizei, die für den Schutz des eigentlichen Bahnhofsgebäudes zuständig ist – alles Bereiche außerhalb der Zuständigkeit der Landesregierung. Kritik der Landes-Opposition an der Landesregierung sei "völlig haltlos" und "Wahlkampf auf Kosten der Opfer". Das sehen die Oppositionsparteien CDU und FDP naturgemäß anders. So enthält der Bericht für jeden etwas. Im Landeswahlkampf dürfte er noch eine wichtige Rolle spielen.