Künstler nach der Flucht: Saša Stanišić
21. Dezember 2017Tief im Osten Deutschlands, in der Uckermark, in der auch die Bundeskanzlerin beheimatet ist, spielt eine der aktuellen Erzählungen von Saša Stanišić. "Der Fallensteller" heißt sein letztes Buch. Dort, wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen, wo die Öde der verlassenen Dörfer jeden Besuch eines Fremden zur Sensation werden lässt.
Und eines Tages taucht in diesem brandenburgischen Dorf ein Mann auf: "Knollennase, hinten Zopf, vorne Glatze, schwarzer Mantel mit hohem Kragen, wie aus einem Jahrhundert, in dem die Männer Beinkleider trugen. Unter dem Arm ein Käfig." Unvermittelt steht dieser aus der Zeit gefallene Herr, ein Fallensteller, auf einmal in der Sonne, direkt vor der Garage, in der sich Ulli und seine Kumpels schon nachmittags treffen. "Wir trinken in Ullis Garage, weil nirgends sonst Sitzgelegenheiten und Lügen und ein Kühlschrank so zusammen kommen, dass es für Männer miteinander und mit Alkohol schön und gleichzeitig nicht zu schön ist."
Der unheimliche Fremde hat dem neusten Buch von Saša Stanišić den Titel gegeben: "Fallensteller". Stanišić hat hierfür den Spielort seines vorherigen, sehr erfolgreichen Romans "Vor dem Fest" nochmals aufleben lassen: "Fürstenfelde, Brandenburg. Einwohnerzahl ungerade. Bei uns am Ortseingang steht ein Schild: 'Jetzt wird's schön'. Anzahl der auf der aktuellen Wanderkarte als sehenswerte Einzelbäume gekennzeichneten Bäume: zwei."
Begnadeter Vortragskünstler
Knapp 100 Lesungen absolviert der Schriftsteller Saša Stanišić inzwischen jedes Jahr. Mit professionellem Habitus tritt er als Literatur-Performer auf der Bühne auf. Man merkt ihm die Jonglierfreude mit den deutschen Wörtern, den Anklängen zwischen den Zeilen an, und auch seine feine subtile Ironie, mit der er seine Zeitgenossen in Deutschland beobachtet.
Er ist ein gefragter Gast für unterhaltsame Lesungen. Sein Debütroman "Wie der Soldat das Grammophon repariert" (2006) musste kurz nach seinem Erscheinen in mehreren Auflagen nachgedruckt werden und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit seinem zweiten Roman "Vor dem Fest" (2014) wurde er zum Shooting Star der Buchbranche, der Preis der Leipziger Buchmesse machte ihn erstaunlich schnell auch international bekannt. Doch der Autor genießt seinen Ruhm nach wie vor in aller Bescheidenheit, wie beim DW-Interview für die Doku "Nach der Flucht" zu merken ist.
Das Handwerk des professionellen literarischen Schreibens hat Stanišić am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig gelernt, nach dem Studium in Heidelberg. Die intensive Arbeit an seinen Texten zeige ihm, wie viel mehr ein Autor über all das nachdenken muss, was zwischen den Zeilen mitschwingt, sagt Stanišić im DW-Interview in Heidelberg.
Beim Schreiben sei er am liebsten von Leuten umgeben. "In Hamburg, wo ich mittlerweile lebe, gehe ich sehr oft in die Ärztliche Zentralbibliothek. Die lernen da wie wahnsinnig, da kann ich mich gut konzentrieren. Um nicht aufzufallen, nehme ich mir immer ein paar Bücher aus dem Regal."
"Das Wort angucken, und das Wort guckt zurück"
Stanišić lässt seine Protagonisten literarisch durch die Welt reisen. Jeder ist irgendwie auf der Flucht - vor irgendwas oder irgendwohin. Ferdinand Klingenreiter lernen die Leser kennen, einen alternden Zauberkünstler, der auf der Bühne des Gemeindesaals gegen seine Versagensängste kämpft. Mo, den chaotischen Reisefreak, der sich immer in die falschen Frauen verliebt - mit Vorliebe in Menschenrechtsaktivistinnen.
Dann ist da noch Meerrettich-Michael und Georg Horvath, Geschäftsmann aus Deutschland, der nach Brasilien fliegt, um dort die Übernahme einer heimischen Brauerei einzufädeln. "Zuviel Inflight-Riesling und seit dreißig Stunden keinen Schlaf und ein Sitznachbar aus Fernost, der sich jetzt schon wieder ein Bonbon in den Mund schiebt."
Georg ist kein nervöser Mann, aber die stoische Ignoranz seines Flugnachbarn macht ihn fertig. Das Anstrengendste an diesen Geschäftsreisen, so legt es Stanišić seinem Protagonisten in den Mund, sei der ewige Small Talk und die Enge der Flugsitze. "Georg Horvath zieht die Schuhe an, stöhnt in die Schnürsenkel. Mehr Sport, weniger Kohlenhydrate. In der Business Class ist niemand dick. In der Business Class sind alle Business Class."
"Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren"
Saša Stanišić ist ein bühnenreifer Geschichten-Erzähler, sein leichter Akzent macht seinen besonderen Charme aus. Wie bei einem Poetry Slam, an den seine Lesungen erinnern, wird ohne Ende gelacht. Der Schriftsteller kann sich manchmal selbst vor Lachen kaum noch auf den Text konzentrieren. Es vergeht keine Seite ohne sprachliche Überraschungen.
Auf einmal taucht mittendrin ein Sprachbild, ein kleine Philosophie des Alltags aus dem Fluss der literarischen Erzählung auf: "Das Sympathische an Fischen ist ihre konstante Niedergeschlagenheit. Es gibt den fröhlichen Fisch nicht." Und Saša Stanišić weiß, wovon er spricht. Schon als Kind, in seiner Heimatstadt Visegrad in Bosnien und Herzegowina, ist er passionierter Angler gewesen, erzählt er im DW-Interview.Er liebt die Stille am Ufer des Flusses, die den Gedanken keinen Widerstand auferlegt. Das sagt er in poetischer Einfachheit.
"Den Prozess des Schreibens genieße ich sehr"
Die ersten kleinen Geschichten schreibt Stanišić mit 12 Jahren auf Serbokroatisch. Er ist vierzehn Jahre alt, als seine Eltern mit ihm 1992 vor dem Krieg in Bosnien nach Deutschland fliehen. Zum Glück landen er und seine Mutter in Heidelberg, ein Onkel nimmt sie auf und vermittelt ihnen eine Wohnung in Emmertsgrund, einem Migrantenviertel am Hang oberhalb der Stadt.
Der Förderunterricht an der Internationalen Gesamtschule Heidelberg eröffnet ihm ganz neue Sprachwelten. Stanišić lernt schnell auf Deutsch zu schreiben, erste gefühlsbeladene Gedichte entstehen. Die Förderklasse ist für ihn ein Refugium der Sicherheit. "Ich fand diese Zeit unheimlich hilfreich, weil ich nicht überfordert war, sondern erstmal zwei, drei Monate Zeit hatte, um überhaupt in der deutschen Sprache anzukommen."
Zum Glück erfährt er von der Möglichkeit, sich als Student einzuschreiben, um vor Abschiebung geschützt zu sein. Seine Eltern müssen Deutschland verlassen, ziehen nach Florida in den USA, wo sie heute noch leben. Stanišić geht nach erfolgreichem Masterabschluß ebenfalls für ein Jahr als Fellowship nach Amerika. Sein literarisches Handwerk lernt er dann am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Auch das eröffnet ihm nochmals neue internationale Literaturwelten, macht ihn sicher im Schreiben.
"Jede Heimat ist nur eine zufällige"
Für den Schriftsteller Saša Stanišić sind die eigene Fluchtgeschichte und auch die Erlebnisse aus dem Jugoslawienkrieg immer präsent. "So viel erinnert an 1992, an unsere Flucht nach Deutschland, an Ungewissheiten unterwegs, das Ausgeliefertsein, Fußmärsche, Angst", schreibt er in seinem Blog "kuenstlicht".
Er sei unendlich dankbar, sagt er immer wieder in Interviews, dass er soviel Chancen in Deutschland hatte, hier studieren konnte - und jetzt als erfolgreicher Schriftsteller eine Stimme hat, die gehört wird.
Das findet auch Eingang in seine Literatur: "Jede Heimat ist eine zufällige. Dort wirst du halt geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachtest du deine Nieren an die Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann."
Feines Gespür für Situationskomik
In seinen inzwischen sehr erfolgreichen Büchern, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, kommt bei aller Situationskomik auch immer seine politische Wachheit durch. Mit Aufmerksamkeit beobachtet Stanišić das Erstarken der rechten Populisten in Deutschland, die latente Fremdenfeindlichkeit gegenüber Flüchtlingen.
"Mehr Literaten als Nazis", beschreibt er im "Fallensteller" das kleine fiktive Dorf in der Uckermark. "Fürstenfelde ist mehrheitlich unbesorgt. (...) Immerhin sind fünf syrische Flüchtlinge in die Zwei gezogen, direkt gegenüber von der Garage. Babylonisches Sprachengewirr, wenn die Säufer, die Einheimischen, die Berliner und die Syrer zusammenkommen."
"Ich träume gern Verlierer", lässt der Schriftsteller bei einer Lesung zur Verleihung des Rheingauer Literaturpreises die amüsierten Zuhörer wissen. Der Hintersinn seiner Worte blitzt kurz im Augenwinkel auf. "Ich gebe ihnen in meiner Geschichte eine Perspektive", setzt er nach einer dramaturgisch wirksamen Pause hinzu. Sein Blick wird nachdenklich und ernst. Stille für einen Moment, der Satz schwingt nach. Das ist ihm wichtig, er will mit dem, was er sagt, ankommen.
Wollen Sie hören, wie Saša Stanišić aus seinen Büchern liest? Dann klicken Sie hier. Hier geht's zum multimedialen DW-Special "Nach der Flucht".
Hier finden Sie die TV-Dokumentation "Nach der Flucht" bei YouTube.
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