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So kämpfen afghanische Frauen für ihre Freiheit

Christine Lehnen
16. August 2022

Ein Jahr nach der Machtübernahme durch die Taliban dürfen Mädchen nicht in die Schule und Frauen nicht mehr auf die Straße. Wer kann wie helfen?

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Zwei Männer im Vordergrund, dahinter Frauen mit Kopftuch und Handykameras.
Kämpfer der Taliban feuerten am 13. August über die Köpfe von demonstrierenden AfghaninnenBild: Wakil Kohsar/AFP

Vor einem Jahr nahmen die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul wieder ein, fluchtartig verließen die NATO-Truppen das Land. Seitdem hat sich die Lage der Frauen im Land dramatisch verschlechtert.

Vor wenigen Tagen demonstrierten rund 40 Frauen vor dem afghanischen Bildungsministerium. Ihre Forderung: "Brot, Arbeit und Freiheit!"

Die Reaktion der Taliban: Bewaffnete Kämpfer feuern Schüsse über der Menge ab, flüchtende Frauen werden mit Gewehrkolben verprügelt, auch Journalisten, die vor Ort berichten, werden geschlagen.

Frauen als Spielball des Westens

Shikiba Babori, Journalistin und Ethnologin, zeigt sich davon nicht überrascht: "Viele Männer in Afghanistan haben nichts anderes gelernt, als ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen, statt mit Argumenten zu überzeugen", berichtet sie der DW im Telefoninterview. "Frauen, die ihre Stimme erheben, werden eingeschüchtert, bedroht und getötet."

Aber auch der Westen habe die Afghaninnen stets nur als Spielball benutzt, so Babori - das legt sie in ihrem neuen Buch, "Die Afghaninnen: Spielball der Politik" dar, das kürzlich erschienen ist. Die US-amerikanische Regierung habe zum Beispiel vor dem Einmarsch im Jahr 2001 in Afghanistan behauptet, die afghanischen Frauen mit ihrem Kriegszug "befreien" zu wollen. Amerikanische Feministinnen klatschten Beifall.

Nach dem überstürzten Abzug aus Kabul im Jahr 2021 stellte sich diese "Befreiung" als leeres Versprechen heraus, die Afghaninnen wurden wieder sich selbst überlassen. Dazu würden dieselben Feministinnen aus den USA bloß schweigen, so Babori.

Afghanistan: ein Land mit bewegter Geschichte

Eine, die nicht schweigt, ist die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Unter der Herrschaft der Taliban sei die Situation der Frauen und Mädchen "unerträglich", sagte sie kürzlich. Mädchen und Frauen führten "ein Leben wie im Gefängnis", da ihnen der Zugang zu Bildung verwehrt würde und sie sich ohne männliche Verwandte nicht frei bewegen könnten.

Was die Außenministerin als "bittere Realität" bezeichnet, ist und war für viele Afghaninnen auch während der letzten 20 Jahre ganz normal, weiß Shikiba Babori zu berichten. "In über der Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans hatte sich die prekäre Lage der Frauen ohnehin nie verändert."

Shikiba Babori schaut lächelnd in die Kamera.
Seit dem Jahr 2003 reist sie regelmäßig nach Afghanistan: die Ethnologin Shikiba BaboriBild: DW

Babori ist selbst in Kabul geboren und in den 1970er-Jahren nach Deutschland emigriert, sie kennt das Land und seine Leute gut. In ihrem Buch gibt sie einen erhellenden Überblick über die historische Entwicklung Afghanistans seit den 1920er-Jahren und weist immer wieder auf die Diskrepanz zwischen Stadt und Land hin: "Wenn man das Schicksal der afghanischen Frauen anschaut, die außerhalb der Großstädte leben, wird deutlich, wie gering die Zahl der Frauen war, die tatsächlich von den wenigen Chancen profitieren konnte, die sich in den letzten 20 Jahren boten."

Droht ein neuer Bürgerkrieg?

Und auch jene Frauen, die von den Chancen profitieren konnten, fühlten sich nun von den westlichen Mächten im Stich gelassen. Das berichtet Waslat Hasrat-Nazimi, DW-Journalistin und Autorin des Buches "Die Löwinnen von Afghanistan", das heute erscheint (16.08.2022). Die Frauen seien enttäuscht, dass das Versprechen von Freiheit, das man ihnen gemacht habe, nicht eingehalten worden ist. Manche seien aber auch einfach erleichtert, dass der Krieg nun erst einmal vorüber sei.

Annalena Baerbock steht vor einem Rednerpult, im Hintergrund die Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
Außenministerin Baerbock hat zum Jahrestag versprochen, Deutschland würde die Afghaninnen und Afghanen "nicht im Stich lassen"Bild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Die Ruhe dürfte aber nicht lange anhalten, so Hasrat-Nazimi im Gespräch mit der DW: "Ich gehe davon aus, dass es eher erst einmal schlimmer wird, dass es mehr kriegerische Auseinandersetzungen geben wird, unter verschiedenen Fraktionen der Taliban, aber auch der IS wird wieder erstarken."

Deshalb sei die größte Angst in Afghanistan, dass der Westen nun jegliches Interesse verlieren und ganz wegschauen würde, bestätigt auch Shikiba Babori - wie schon in der Vergangenheit, nach dem Abzug der Sowjetunion im Jahr 1989. Auf die sowjetische Besatzung folgte ein qualvoller Bürgerkrieg in Afghanistan.

Feministische Außenpolitik

Annalena Baerbocks Ansatz einer feministischen Außenpolitik sei ein Hoffnungsschimmer, so Babori. Sie betone die Verantwortung der NATO-Staaten gegenüber der afghanischen Bevölkerung, gerade in Anbetracht der katastrophalen humanitären Lage im Land. "Frauen können nicht vor die Tür, Mädchen dürfen nicht in die Schule", fasst sie es zusammen. "Menschen verkaufen ihre Organe, um Geld zu bekommen. Eltern verkaufen ihre Kinder. Manche geben sie einfach nur ab, damit sie einen Esser weniger im Haus haben. Der Westen kann nicht nur an Stichtagen darüber sprechen."

Verkaufte Kinder in Afghanistan

Hoffnung setzen sowohl Babori als auch Hasrat-Nazimi auf die Afghaninnen im Land, die zu eigener Stärke finden wollen. "Das war immer der Tenor, wenn ich mit Frauen in Afghanistan gesprochen habe", berichtet Hasrat-Nazimi. "Sie sagten: Jetzt muss es anders sein, jetzt müssen wir es selbst machen."

Ihr Buch ist eines, das die Fehler der westlichen Außenpolitik benennt, aber auch Mut macht: Sie schaut auf die Aktivistinnen, die den Kampf nicht aufgeben, und auf die inspirierenden Vorreiterinnen für Frauen- und Menschenrechte in Afghanistans Geschichte. 

Afghanistans Frauen unterstützen

40 mutige Afghaninnen haben auf der Demonstration in Kabul vor einigen Tagen diesen Kampf fortgeführt. Und sie sind nicht die einzigen: Shikiba Babori berichtet von einem jungen Mädchen, das auf einer Bühne unter Taliban-Flagge eigentlich ein Gedicht hatte aufsagen sollen - und stattdessen ihren Auftritt nutzte, um die Öffnung von Schulen für Mädchen zu fordern. Diese Frauen, so Babori, gelte es nun zu unterstützen.

Ihr Buch analysiert die Lage so präzise wie schonungslos, gerade der Überblick über die Geschichte der Frauenrechte in Afghanistan ist so beeindruckend wie lehrreich. Sie scheut sich nicht, Fehler zu benennen oder klare Forderungen an die Politik zu stellen. Eine davon lautet: Die Frauen in Afghanistan müssten gehört und unterstützt werden - und zwar nicht nur an Stichtagen, sondern das ganze Jahr über.

 

"Die Afghaninnen: Spielball der Politik" von Shikiba Babori ist am 20.07.2022 im campus-Verlag erschienen. "Die Löwinnen von Afghanistan" der DW-Redakteurin Waslat Hasrat-Nazimi wird am 16.08.2022 von rohwohlt veröffentlicht.