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Lage in Kiew gerät außer Kontrolle

20. Februar 2014

Trotz der vereinbarten Waffenruhe liefern sich Regierungsgegner und Polizei in Kiew neue Straßenschlachten. Nach Angaben von Ärzten wurden mehr als 60 Menschen erschossen. Scharfschützen nehmen Demonstranten unter Feuer.

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Lage in den Straßen von Kiew (Foto: rtr)
Bild: Reuters

Ukraine: Parlament will „Anti-Terror-Einsatz“ beenden

Der vereinbarte Gewaltverzicht in der Ukraine hat keine zwölf Stunden gehalten. Hunderte bewaffnete und vermummte Demonstranten gingen am Donnerstag auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, gegen Polizei-Barrikaden vor. Sie schleuderten Feuerwerkskörper und Brandsätze auf die Sicherheitskräfte, die ihrerseits Tränengas abfeuerten.

Die Polizei schoss außerdem mit scharfer Munition in die Menge. Die Lage scheint völlig außer Kontrolle. Bei den Unruhen in Kiew sind nach Angaben der Opposition allein am Donnerstag mehr als 60 Menschen durch Schüsse getötet worden. Das sagte der Leiter der medizinischen Dienste der Opposition, Swjatoslaw Chanenko, der Nachrichtenagentur AFP in Kiew. Auch der Abgeordnete Swjatoslaw Chanenko von der rechtspopulistischen Partei Swoboda (Freiheit) nannte diese Zahl. Augenzeugen berichteten von Scharfschützen, die von Häusern und Dächern aus gezielt vermeintliche Anhänger der Opposition ins Visier nähmen.

Polizisten als Geiseln genommen
Die ukrainischen Sicherheitskräfte haben inzwischen nach Angaben von Innenminister Vitali Sachartschenko Schusswaffen für den "Anti-Terror-Einsatz" erhalten. Die Waffen dürften in Übereinstimmung mit dem Gesetz mit scharfer Munition eingesetzt werden, sagte Sachartschenko. Zugleich forderte er die Regierungsgegner auf, ihre Waffen niederzulegen und zu friedlichem Protest zurückzukehren. Die Oppositionsführer müssten sich von "radikalen Handlungen" distanzieren. Nach jüngsten Angaben des Ministeriums nahmen Demonstranten in Kiew 67 Polizisten als Geiseln.

Das Innenministerium in Kiew teilte mit, bei den neuen Zusammenstößen seien drei Sicherheitskräfte getötet und mehr als 50 verletzt worden. Mehr als 30 von ihnen hätten Schussverletzungen erlitten. Es rief die Bevölkerung auf, wegen der zugespitzen Lage Häuser und Wohnungen nicht zu verlassen.

Ein Regierungsgegner legt eine Decke über ein Todesopfer (Foto: rtr)
Ein Regierungsgegner legt eine Decke über ein TodesopferBild: Reuters

Den Demonstranten gelang es, die Kontrolle über den Platz weitgehend zurück zu gewinnen. Fernsehbilder zeigten, wie Regierungsgegner auf Terrain vorrückten, das am Tag zuvor in der Hand der Polizei gewesen war. Schwarze Rauchwolken von brennenden Reifen stiegen auf. Auf dem Maidan selbst harren tausende Menschen aus.

Parlament und Regierungssitz evakuiert

Das ukrainische Parlament sagte aufgrund der neuen Lage seine für heute und Freitag geplanten Sitzungen ab. Das Gebäude wurde ebenso wie der Regierungssitz evakuiert, wie der frührere Parlamentspräsident Wladimir Litwin mitteilte. Zuvor waren radikale Demonstranten ins Regierungsviertel vorgedrungen.

Am Mittwochabend hatte es noch ein vorsichtiges Zeichen der Hoffnung gegeben. Präsident Viktor Janukowitsch traf sich als Reaktion auf die Eskalation der Gewalt auf dem Maidan nochmals mit den Anführern der Oppositionsparteien im Parlament - Arseni Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleg Tjagnibok. Sie vereinbarten einen sofortigen Gewaltverzicht und weitere Verhandlungen über einen Ausweg aus dem monatelangen Machtkampf. Bei den schwersten Ausschreitungen seit Wochen in Kiew waren am Dienstagabend und Mittwoch mindestens 28 Menschen getötet und wohl etwa 1000 verletzt worden.

Ukraine: Parlament will „Anti-Terror-Einsatz“ beenden

Steinmeier trifft Opposition

Vor der Entscheidung der Europäischen Union über mögliche Sanktionen gegen die ukrainische Führung verschafften sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und seine Kollegen aus Frankreich und Polen in Kiew einen Überblick. Sie seien gekommen, um ein Ende der Gewalt einzufordern, sagte Steinmeier vor dem Gespräch mit der Opposition in der deutschen Botschaft. "Die Zukunft der Ukraine kann nur hier selbst gefunden werden, und sie wird nicht auf den Straßen mit Gewalt gefunden." Auf ukrainischer Seite nahmen die Oppositionsführer Klitschko, Jazenjuk und Tjagnibok teil.

Anschließend kamen die EU-Minister mit Staatschef Janukowitsch zusammen. Bei dem Gespräch waren weder Journalisten noch TV-Kameras zugelassen. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski berichtete im Kurznachrichtendienst Twitter von Kämpfen auch vor dem Amtssitz von Janukowitsch. "Schwarzer Rauch, Explosionen und Schusswechsel rund um den Präsidentenpalast", schrieb Sikorski. Ukrainische Regierungsvertreter seien extrem nervös.

Außenminister Steinmeier und sein polnischer Kollege Sikorski (2.v.l.) mit Klitschko (Foto: dpa)
Außenminister Steinmeier (2. v. r.) und sein polnischer Kollege Sikorski (2.v.l.) suchen mit der Oppostion nach AuswegenBild: picture-alliance/dpa

Inzwischen beendeten die drei Außenminister das Vermittlungsgespräch mit Janukowitsch. Sie wollen vorerst in Kiew bleiben und nicht nach Brüssel fliegen, wie EU-Diplomaten mitteilten. Ihre EU-Kollegen kamen dort zu einer Sondersitzung zusammen, um über mögliche Sanktionen gegen die ukrainische Führung zu beraten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel rief den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch inzwischen "dringend" auf, eine Regierungsneubildung und eine Verfassungsänderung zuzulassen. Dies habe Merkel dem Präsidenten am Morgen in einem Telefonat mitgeteilt, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Merkel habe bei dem Gespräch die jüngste Eskalation scharf kritisiert und Janukowitsch die Hauptverantwortung dafür gegeben. Nur Gespräche mit schnellen, greifbaren Ergebnissen bei Regierungsbildung und Verfassungsreform böten die Chance zu einer nachhaltigen Lösung des Konflikts, erklärte Seibert. "Jedes Spiel auf Zeit werde den Konflikt weiter anheizen und berge unabsehbare Risiken", habe Merkel deutlich gemacht.

Christian Trippe aus Brüssel zur Ukraine

Gespannte Lage in der Provinz

Auch in vielen Städten im Westen der Ex-Sowjetrepublik ist die Lage gespannt. In der Großstadt Lwiw (Lemberg) patrouillieren sogenannte Selbstverteidigungskräfte in den Straßen. Die antirussisch geprägte Gegend ist eine Hochburg radikaler Regierungsgegner.

se/haz/kle (rtre, afpe, ape, dpa)