Leben hinter der Zuckerbäckerfassade
15. Januar 2003Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Die meisten Städte waren in Schutt und Asche gelegt. Im sowjetisch besetzten Teil ging die neue Arbeiter- und Bauernmacht daran den Sozialismus aufzubauen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Häuser und Städte sollten errichtet werden, in denen der sozialistische Werktätige eine angemessene Heimat findet.
Ein symbolischer Akt
Die klassische Moderne lehnte man in der Phase des "heißen" Stalinismus bis zum Tod des Diktators 1952 als "amerikanisch-dekadent" und "formalistisch" ab. Es galt eine Mischung zu finden aus nationaler Bautradition und dem, was die russischen Genossen vormachten. Der damalige Staatschef der DDR, Walter Ulbricht, schickte seine besten Architekten deshalb zum Studium neuer Stadtplanung nach Moskau. Zurück in Berlin schufen sie ein Stück Moskau in Berlin, die Stalinallee. Damit sollte der "Grundstein für den Aufbau des Sozialismus in der Hauptstadt Deutschlands" gelegt werden.
Schöne und zweckmäßige Architektur
Weite Teile dieses wohl monumentalsten Bauwerks der DDR sind noch immer erhalten. Der Straßenzug ist heute geteilt und heißt Karl-Marx-Allee bzw. Frankfurter Allee. Über zwei Kilometer verteilte stehen hier ein Dutzend Sieben- bis Dreizehngeschosser, einige von ihnen sind 300 Meter lang. Sie erinnern an die klassizistischen Bauten von Karl Friedrich Schinkel, wobei die Außenfassaden mit verspielten Ornamenten und hellen Kacheln verkleidet sind – Zuckerbäckerstil nennen Kritiker diesen Baustil.
Zum sozialistischen Großstadtleben gehörten ferner ein Kino, Cafés, Restaurants, eine Festhalle und eine Stalin-Statue. Die Festhalle mußte wegen Baufälligkeit in den 1970er-Jahren abgerissen werden. Das Denkmal fiel bereits kurz nach Stalins Tod. Die Vorzeige-Allee sollte eine repräsentative Großstadt-Magistrale sein. Deshalb ließ man 90 Meter Platz zwischen den beiden Straßenseiten - allerdings nicht vordergründig, um dem Volk Raum zum Flanieren zu geben. Die Bauherren schufen vielmehr Platz für Militärparaden und Aufmärsche.
Das Volk macht mit
Insgesamt waren sechs Architekten an dem Großprojekt beteiligt, unter ihnen Berlins Chef-Architekt Hermann Henselmann, der später auch den Berliner Fernsehturm baute. 5000 Wohnungen entstanden. Unterstützt wurden die Bauarbeiter-Brigaden von zehntausenden Freiwilligen, die mit der Aussicht auf eine Wohnung angelockt wurden. Für 300 Stunden Steineklopfen bekamen die Feierabendmaurer ein Los und hatten Chancen, bei der Lotterie eine Wohnung zu gewinnen.
Parkett, Müllschlucker, Aufzüge und Heizungen versprachen einen Luxus, den sich viele der Mieter sonst nie hätten leisten können. Vor 50 Jahren, im Januar 1953, zogen die ersten Mieter ein. Sie waren froh darüber, den heruntergekommenen Mietskasernen der Jahrhundertwende den Rücken kehren zu können. Viele von ihnen wohnen noch heute in ihrer Straße.
Geschichten überlagern sich
Die italienische Fotografin Lidia Tirri und die schwedische Journalistin Ylva Queisser haben sich mit den Mietern der ersten Stunde unterhalten und ihre Eindrücke in der Ausstellung "Leben hinter der Zuckerbäckerfassade" zusammengestellt. Die Fotos porträtieren alte Männer und Frauen, die in ihrer guten Stube sitzen und der Vergangenheit hinterher trauern.
"Heute sagt meine Nachbarin, hier im Haus ist noch ein Stückchen DDR", erzählt Mieter Horst Mädicke. "Damit meint sie, es ist ihre Heimat." Es galt als Privileg, an der mächtigen Allee zu wohnen – und es war besser, SED-Mitglied zu sein, erzählt Charitas Urbanski, die einzog als hinter dem Haus noch die Trümmerfrauen arbeiteten.
Nur einmal brach Unfrieden über die Allee ein: Am 17. Juni 1953 versammelten sich tausende Bauarbeiter auf der Stalinallee und zogen zum Stadtzentrum, um gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen zu demonstrieren. Der Aufstand, der Nachahmer im ganzen Land fand, wurde von sowjetischen Panzern und der DDR-Staatsmacht brutal niedergeschlagen: 260 Tote, 13.000 Verhaftungen.
Heute wohnen viele junge Leute neben den Rentnern der Stalinallee. Sie sehen ihre Bleibe im Schatten des Sozialismus als besonderen Ausdruck einer neuen Urbanität und zahlen dafür vergleichsweise viel Miete. Ein Großteil des denkmalgeschützten Ensembles ist inzwischen saniert. "Wenn es regnet oder schneit, fühle ich mich wie in Moskau", sagt die 27-jährige Architektin Marion Rehn.