Buchpreis für Klaus-Michael Bogdal
14. März 2013Gerade hat sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma an Bundespräsident Joachim Gauck gewandt und ihn darum gebeten, in der aktuellen Debatte um Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien mäßigend auf die Politiker einzuwirken. Die Diskussionen würden aggressiv geführt und richteten sich insbesondere gegen Sinti und Roma. Von "Betrug von Sozialleistungen" sei die Rede, von "Asylmissbrauch" und von "Kriminalität". Er stelle, schreibt der Zentralratsvorsitzende Romani Rose, einen neuen Populismus fest, der von Politikern betrieben werde.
Aktuell und brisant
Romvölker leben seit rund 600 Jahren in Europa. Und beinahe ebenso lange werden sie ausgegrenzt, verfolgt und beschimpft – als Wilde, Asoziale, als Diebe und Lügner. Wie das möglich wurde, erzählt der Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal, Jahrgang 1948, in seinem aufwendig recherchierten und kurzweilig geschriebenen Buch "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung" (erschienen 2011 im Suhrkamp Verlag). Für dieses Werk erhält Bogdal nun einen der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland, den mit 15.000 Euro dotierten Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Gerade angesichts eines neu aufbrandenden Antiziganismus in Europa gewinne Bogdals epochale Studie eine bedrückende Aktualität und Brisanz, heißt es in der Begründung der Jury.
Fremde, die bleiben
Sie kamen im 15. Jahrhundert, wurden im Englischen als "Gypsies", im Spanischen als "Gitanos" und im Deutschen als "gens Ciganorum" bezeichnet. Sie waren unbekannte Fremde, deren Vorfahren, wie man heute weiß, aus Indien stammten, und wurden als bedrohlich empfunden, weil sie anders waren. Über ihre Herkunft ließ sich damals nur spekulieren, aufgrund ihrer nomadischen Lebensweise wurden sie Wüsten- und Steppenvölkern zugeordnet, mit denen man nicht nur Invasionen und Landnahmen assoziierte, sondern auch Rückständigkeit. In Europa, das sich seinerzeit im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit befand, also in einer gewaltigen Umbruchphase, galten die Zigeuner, wie Bogdal schreibt, bald als "Strandgut aus einer vergangenen Zeit am Ufer der Moderne“.
Kalkulierte Abgrenzung
Von diesen Menschen musste man sich abgrenzen, um die eigene Modernität unter Beweis zu stellen. Das gelang umso leichter, weil die Romvölker über keine eigene Schriftkultur verfügten und damit allen Fremdzuschreibungen, Projektionen und Klischees ungebremst ausgeliefert waren. Die besondere Leistung Klaus-Michael Bogdals ist es nun, dass er zeigt, " wie Europa den Grad der eigenen Kultiviertheit an der Abwertung der Roma im Spannungsfeld zwischen Hass, Abwehr und romantisierender Zigeuner-Folklore festmacht", urteilt die Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung.
Blick in den Spiegel
Tatsächlich hat der Bielefelder Literaturwissenschaftler keine Kulturgeschichte der Sinti und Roma geschrieben. Vielmehr verfolgt er deren Darstellung in der europäischen Literatur und Kunst durch die Jahrhunderte. Von frühen Chroniken über die Idealisierungen der Romantiker im 19. Jahrhundert bis hin zur Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg und Holocaust-Erinnerungen von Sinti und Roma. "Dieses Buch", schreibt Bogdal im Prolog, "ermöglicht einen Blick in den Spiegel, auch wenn er von der Erfindung eines Gegenübers der europäischen Völker handelt".
Preiswürdig
Und wirklich erfährt man hier sehr viel über das Denken und Fühlen einer europäischen Mehrheitsgesellschaft, über Allmachtsfantasien und zivilisatorischen Hochmut. Und immer noch gehört diese lange Geschichte einer ethnischen Diskriminierung nicht der Vergangenheit an. Bis heute, durch die Jahrhunderte und über alle Ländergrenzen hinweg, werden Sinti und Roma verfolgt und diskriminiert.
Die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung findet am 13. März im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeiten der Leipziger Buchmesse statt. Die Laudatio auf den Preisträger hält der Schriftsteller Feridun Zaimoglu.