Leistung groß - Rente klein
3. September 2012"Die neue Renten-Schock-Tabelle" lautet die Schlagzeile auf der Titelseite der jüngsten Ausgabe der Boulevardzeitung "Bild am Sonntag". Das Blatt präsentiert Zahlen und Modellrechnungen aus dem Bundesarbeitsministerium: Wer in Deutschland 2500 Euro brutto im Monat verdient und 35 Jahre lang in einer Vollzeitbeschäftigung gearbeitet hat, wird ab dem Jahr 2030 eine Rente von gerade einmal 688 Euro erhalten. Das entspricht exakt dem Betrag, der momentan die "offizielle" Schwelle zur Altersarmut markiert. Wer nämlich als alter Mensch weniger Geld zur Verfügung hat, erhält eine "Grundsicherung" - die Sozialleistung aus Steuermitteln soll das Minimum einer menschenwürdigen Existenz in Deutschland sicherstellen.
Altersarmut durch Minirenten droht demnächst nicht nur Hausfrauen, Teilzeitarbeitern und Geringverdienern, sondern praktisch jedermann - so lautet jetzt die Alarmbotschaft von Ursula von der Leyen. Die Deutschen bräuchten "zwingend eine zusätzliche Altersvorsorge, um der Armutsfalle im Rentenalter zu entkommen". Grundsätzlich ist das Problem nicht neu - "schuld" ist eine eigentlich erfreuliche Tatsache: Die Menschen in Deutschland werden im Schnitt immer älter. Das bedeutet allerdings, dass alle lebenslangen Renten im Schnitt auch länger gezahlt werden müssen. Die Bundesregierung will daher das Rentenniveau, das Verhältnis von Rentenhöhe zum Arbeitseinkommen, schrittweise absenken - von derzeit 51 Prozent auf nur noch 43 Prozent im Jahr 2030.
Systemkrise der gesetzlichen Rente
Wenn aber ein "normaler" Arbeitnehmer - rund ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland verdient weniger als die im Eingangsbeispiel genannten 2500 Euro - schon nur noch eine Rente auf Sozialhilfeniveau erwirtschaftet, dann "steht nicht mehr und nicht weniger als die Legitimität des Rentensystems für die junge Generation auf dem Spiel", so formuliert es die Ministerin nun. Denn die geringe Rentenhöhe ist gar nicht einmal das einzige Problem, es droht zudem eine Gerechtigkeitslücke: Auch wer in seinem Leben wenig oder gar keine Rentenbeiträge eingezahlt hat, erhält ja zumindest die Grundsicherung. Warum sich also im Arbeitsleben stärker plagen, wenn später dabei kein Plus herauskommt?
Das Gegenrezept der Ministerin nennt sich "Zuschussrente": Niedrige Rentenansprüche sollen bis auf 850 Euro im Monat aufgestockt werden, wenn Rentner langjährig Beiträge eingezahlt haben und zudem eine zusätzliche eigene private Altersvorsorge nachweisen können. Nach von der Leyens Plänen soll die "Zuschussrente" aus dem Topf der gesetzlichen Rentenversicherung finanziert werden. Das findet wiederum ein Teil der eigenen Parteifreunde ungerecht: Gerade weil die Jüngeren nicht mehr viel von der gesetzlichen Rente zu erwarten hätten, sei es der falsche Weg, sie über die Zuschussrente noch mehr zahlen zu lassen, schreibt Jens Spahn von der "Jungen Gruppe" der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag auf seiner Facebook-Seite in einer ersten Reaktion auf das Lagebild der Ministerin: "Eine steuerfinanzierte Grundrente für alle wäre ehrlicher."
Die Einführung einer Zuschussrente, wie sie von der Leyen will, stößt auch beim Koalitionspartner FDP auf Ablehnung. "Dazu gibt es keine Vereinbarung im Koalitionsvertrag", sagte FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle dem Nachrichtenmagazin "Focus". Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende und rentenpolitische Sprecher der Fraktion, Heinrich Kolb, erklärte, eine solche Zuschussrente würde die Rentenkasse überfordern.
Zuschussrente nur für wenige
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles warf von der Leyen Versagen bei der Bekämpfung der drohenden Altersarmut vor. Altersarmut könne nur mit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen und einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn abgewendet werden. "Dafür sollte sich Frau von der Leyen einsetzen, anstatt für eine Zuschussrente für ganz wenige", sagte Nahles der "Bild"-Zeitung.
Der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Matthias W. Birkwald, nennt die von der Arbeitsministerin vorgelegten Zahlen schockierend, aber andererseits auch nicht überraschend. "Bei Frau von der Leyen stimmt die Diagnose, aber die Therapie stimmt überhaupt nicht", sagte Birkwald der Deutschen Welle. "Die Zuschussrente ist ein zahnloser Tiger im Kampf gegen die Altersarmut, weil sie aufgrund extrem hoher Zugangshürden nur für sehr wenige gelten wird." Gerade für Geringverdiener sei eine zusätzliche private Altersvorsorge schlichtweg nicht finanzierbar. Die Linke setzt die Schwelle zwischen Armut und einer menschenwürdigen Existenz im Alter deutlich höher an - sie plädiert für eine "solidarische Mindestrente" von 1050 Euro.
Vor allem aber hält Birkwald die Absenkung der Renten bis 2030, also den Ausgangspunkt für das Katastrophen-Szenario der Arbeitsministerin gar nicht für notwendig - er verweist auf den langjährigen Produktivitätsfortschritt und das kontinuierliche Wirtschaftswachstum in Deutschland: "Damit könnte man sehr wohl das Rentenniveau halten, ohne dass die Menschen länger arbeiten müssten. Das wäre finanzierbar."