Lenin - Fanatiker oder Revolutionär?
20. Januar 2024In Russland erinnert man sich heute nur noch selten an den Führer des Weltproletariats - an seinem Geburtstag, an seinem Todestag. Oder wenn der russische Präsident Wladimir Putin ihn als "Architekten der Ukraine" bezeichnet. Die Ukraine, so Putin, sei "das Ergebnis bolschewistischer Politik".
Im Februar 2022, wenige Tage vor Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine, sagte der russische Präsident, er müsse nun die unerwünschten Folgen der Handlungen Lenins beseitigen. Der Revolutionär sei für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen eingetreten und fest habe daran geglaubt, dass die nationalen Kulturen aussterben würden.
Der Kreml macht Lenin zum "bösen Buben", der das große und starke Imperium zerstört habe. Laut Hannes Leidinger, österreichischer Historiker und Mitautor des Buches "Lenin. Biographie. Neubewertung" (erschienen 2023 im österreichischen Residenz-Verlag), ist die Figur Lenins gerade wegen ihres revolutionären Charakters bei Putin und seinem Umfeld zutiefst unbeliebt: "Lenin ist das Chaos. Lenin ist Zwietracht. Lenin ist all das, was Russland in seinem Selbstbild nicht sein will."
"Lenin wird kritisiert wegen seiner teilweisen Kollaboration mit den Deutschen im Ersten Weltkrieg, also mit dem Feind. Und der zweite, vielleicht viel wichtigere Grund für die Kritik, ist Lenins Nationalitätenpolitik. Er war zwar selbst als Klassenkämpfer am Ende davon überzeugt, dass die Einheit der Proletarier aller Länder wieder hergestellt wird. Aber die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion wollte er föderalistisch lösen und hat auch in seinen Reden von Selbstbestimmung bis zur Loslösung gesprochen. Und das ist Putin jetzt ein Dorn im Auge", so Leidinger weiter im DW-Interview.
Lenin sei als historische Figur in Russland vom Sockel gestürzt worden. "Auf der anderen Seite bleibt dieser Lenin ein Denkmal für die Sowjetunion, für die Expansion des Imperiums, für die Macht des Imperiums. Und im Kampf um die Denkmäler, gerade in der Ukraine, erfüllt Lenin dann durchaus wieder eine Funktion im Sinne des Kremls", sagt Leidinger.
Lenins Mausoleum steht auf dem Roten Platz
Ursprünglich war das Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau 1924 nur provisorisch errichtet worden - damit jeder, der sich von Iljitsch verabschieden wollte, dies auch tun konnte. Der Abschied hat sich allerdings deutlich verzögert - Lenin liegt immer noch auf dem Roten Platz.
Warum will die russische Führung ihn nicht beerdigen? "Lenin hat immer noch eine gewisse Bedeutung - nicht als Politiker oder historische Figur, sondern als Symbol der UdSSR", sagt Hannes Leidinger. Es gibt ein Mausoleum, aber es finden keine großen Zeremonien mehr statt. Es ist ein Relikt aus der Vergangenheit, ein historisches Denkmal, wenn man so will. "Aber die Hauptsache ist, dass Lenin sich immer noch als eine Art "Untoter" in einem Zwischenreich befindet - zwischen dem endgültigen Abschied und seiner Rolle als sowjetisches Symbol. Lenin ist also noch nicht ganz tot."
Lenin-Denkmäler in Deutschland
"Lenin lebt" lautet der Titel des Buches aus dem Verlag "8. Mai". Dort erscheinen unter anderem die Werke Lenins und die Zeitung "Junge Welt" . Das Buch ist den Iljitsch-Denkmälern in Deutschland gewidmet, von denen einige schwer beschädigt und in Vergessenheit geraten sind.
Der Autor des Buches, Carlos Gomes, wurde in Portugal geboren. "Ich hatte schon immer ein persönliches und politisches Interesse an der sowjetischen Geschichte, vor allem an der Geschichte der Oktoberrevolution, die ein großes Potenzial in Bezug auf Arbeiterrechte, Frauenrechte, Antikolonialismus und sogar den Kampf gegen Antisemitismus hatte", sagt er. "Ich war allerdings sehr überrascht, als ich vor zehn Jahren in Deutschland ein Lenin-Denkmal entdeckte. Daraus ist dieses Projekt entstanden. Lenin ist in Deutschland also nicht ganz verschwunden."
In der DDR standen etliche Lenin-Denkmäler
Nachdem Carlos Gomes 2014 in Wünsdorf, wo sich einst das Hauptquartier der sowjetischen Truppen in Ostdeutschland befand, ein Lenin-Denkmal entdeckt hatte, beschloss er herauszufinden, wo sonst auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ähnliche Denkmäler sowie Mosaike, Tafeln etc. erhalten geblieben sind. Nach der Veröffentlichung des Buches erhielt Gomes neue Informationen - über weitere Lenin-Gedenkorte. Er beschloss, das Buch zu ergänzen - eine zweite Auflage erschien 2023. "Mich persönlich beeindruckt das Lenin-Denkmal vor dem ehemaligen Offiziershaus in Wünsdorf. Es hat seine einstige Kraft und Ausstrahlung bewahrt, aber gleichzeitig wird deutlich, dass die Zeit nicht spurlos an ihm vorübergegangen ist." Heute sei es die größte Lenin-Statue in Deutschland, weil die anderen großen von ihren Plätzen entfernt worden seien, sagte der Autor im DW-Interview.
Es gibt in Deutschland Lenin-Denkmäler, die einst von der Wehrmacht als Kriegstrophäen aus der Sowjetunion mitgenommen wurden - man wollte sie einschmelzen und als Rohstoff für die Rüstungsindustrie verwenden. "Diese Statuen erinnern nicht nur an Lenin, sondern auch an die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges", so Gomes.
Stalin als logische Fortsetzung von Lenin
Tausende von Büchern und Dissertationen wurden über Lenin geschrieben. Die beiden Autoren sind sich in einem Punkt einig: Lenin hat nicht nur Russland, sondern die ganze Welt verändert. Er widmete sich fanatisch seiner Idee und ordnete alles um sich herum ihrer Verwirklichung unter, ohne Rücksicht auf Verluste.
"Im Großen und Ganzen glaube ich, dass die Sowjetunion Lenins Werk ist. Er hat den Grundstein für den Aufbau dieses Staates gelegt. [Der sowjetische Diktator Josef] Stalin ist im Grunde keine Entartung oder etwas anderes, sondern eine logische Fortsetzung von Lenin", betont der Historiker Hannes Leidinger im DW-Interview. Die Entscheidung, wohin und welchen Weg dieses Land gehen würde, sei im Oktober 1917 gefallen - nach der Machtergreifung sei es darum gegangen, die Macht zu behalten. Der Weg sei für viele Jahre vorgezeichnet gewesen.
Lenin sei bereits schwer krank gewesen, habe aber keine Entscheidung über seinen Nachfolger getroffen. "In gewisser Weise wiederholt sich das immer wieder. Die Parteiführung, eine kleine Gruppe von Leuten, ist immer wieder gezwungen, über die Frage zu entscheiden, wer das Land nach dem Tod eines Führers, der keinen Ersatz für sich vorbereitet hat, führen soll."