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Lernen in der Silberdrachenwelt

Lydia Heller5. November 2012

Berliner Kinder haben mit Architekturstudenten ihre Schule in eine Silberdrachenwelt umgebaut. Und verwandelten sie von einer Problemschule in ein Aushängeschild der deutschen Bildungslandschaft.

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Erika Mann Grundschule Berlin-Wedding. Foto: Lydia Heller, 11.9.2012
ReformschulenBild: DW

Rechnen im Hochsitz des Drachen, Sachkunde in der Drachenhöhle, Lesen im Drachen-Schnaubgarten – Keine Frage, die Berliner Erika-Mann-Grundschule steht ganz im Zeichen des Drachen. Statt grauer Schulflure und spartanisch eingerichteter Klassenräume gibt es überall bunte Ecken und Zimmer, die an einen Drachen erinnern. Die ganze Schule lädt zum Stöbern ein – und das dürfen die Kinder auch. Sie entscheiden selbst, wo sie lernen wollen.

"Wenn wir zum Beispiel Freiarbeit haben, verkriechen wir uns dazu gern in einen Drachensitz", erzählt Melissa aus der sechsten Klasse. Die Elfjährige zeigt auf einen grün-gelb lackierten, aus eckigen Platten wild zusammengesetzten Verschlag im Flur des Erdgeschosses, ausgelegt mit weichen Turnmatten. "Es ist einfach schön, wenn man nicht die ganze Zeit im Klassenraum hocken muss."

Leuchtturm im Problemkiez

Die ganze Schule als großen, offenen Lernraum habe sie sich gewünscht, als Anfang 2002 die Modernisierung des 1914 errichteten Schulgebäudes anstand, erzählt Schulleiterin Karin Babbe. Einen Ort mit genügend Platz für einen Unterricht in kleinen Lerngruppen, in dem die Fähigkeiten eines jeden Schülers erkannt und gefördert werden. Denn das war dringend nötig. Immerhin kommen mehr als drei Viertel der Schüler aus Migrantenfamilien und bildungsfernen Elternhäusern. "Viele sprechen bei der Einschulung weder Deutsch noch ihre Muttersprache richtig. Wenn wir hier versagen, haben die Kinder keine Chance", sagt Babbe.

Erika Mann Grundschule Berlin-Wedding. Foto: Lydia Heller, 11.9.2012
Bunte Tücher statt grauer FlureBild: DW

Tatsächlich galt "die Erika-Mann" lange als "Brennpunktschule", mit Drogenproblemen und Gewalt auf dem Schulhof. Wer konnte, brachte sein Kind woanders unter. Zwar hat sich bis heute das soziale Umfeld der Schüler kaum verändert – inzwischen allerdings landen Jahr für Jahr mehr Anmeldungen zur Einschulung auf Karin Babbes Schreibtisch, als die Schule Plätze hat. "Die Erika-Mann" gilt als Leuchtturm in der Berliner Bildungslandschaft – und die Silberdrachenwelt ist Teil seines Fundaments.

Studenten und Schüler als Architekten

Wie eine Schule aussehen würde, wenn sie sich eine wünschen könnten, lautete schlicht die Frage, die die Architektin Susanne Hofmann den Schülern der Erika-Mann-Grundschule vor dem Umbau stellte. Zusammen mit den "Baupiloten", Architekturstudenten der Technischen Universität Berlin, entwarfen die Kinder daraufhin in Bildern, Collagen und Modellen nach und nach Schulräume ganz nach ihren Vorstellungen – die Baupiloten begleiteten die Umsetzung.

Erika Mann Grundschule Berlin-Wedding. Foto: Lydia Heller, 11.9.2012
Ein Platz zum ChillenBild: DW

Seither ist der Schulflur im Erdgeschoss mit den grün-gelben Drachensitzen der "Schlafplatz des Drachen". Und im ersten Obergeschoss weht der "Atem des Drachen" durch grauschimmernde Garderobenschränke und silberweiße Tücher an den hohen Decken. Wer in Ruhe etwas nacharbeiten will, kann sich im "Schnaubgarten des Drachen" in einem Krallen-Stuhl verstecken, wer sich unterhalten oder Musik hören will, legt sich in die weichen Matten unter gelb-roten Blütenblättern im Chillroom.

Unterm Schutz des Silberdrachens

Weil die Schüler unmittelbar am Umbauprozess beteiligt waren – kein Vorschlag wurde umgesetzt, der nicht vom Schülerparlament abgesegnet wurde – sei die Identifikation der Schüler mit ihrer Schule hoch, sagt Karin Babbe. "Sachbeschädigung und Unfälle in den Räumen haben wir kaum noch. Niemand zerstört etwas, an dem er selbst mitgearbeitet hat." Zwar haben die Kinder, die die Drachenwelten vor knapp zehn Jahren mitentwickelt haben, die Grundschule längst verlassen. Aber der Geist des Drachen ist geblieben.

Erika Mann Grundschule Berlin-Wedding. Foto: Lydia Heller, 11.9.2012
Pinkfarbene Drachenflügel verbergen Tische und StühleBild: DW

"In der ersten Klasse haben wir geglaubt, es gibt den Drachen wirklich", erzählt Nur, "jetzt wissen wir natürlich, dass das nur so eine Geschichte ist. Aber wir fühlen uns beschützt, vom Drachen." Die Sechstklässlerin zeigt auf eine mit pinkfarbenen Platten gepanzerte Wand im Flur des zweiten Stocks. Klappt man sie auf, entstehen entweder Sitze und Tische – oder es kommen Garderobenhaken zum Vorschein. "Wir verstecken unsere Jacken unter den Flügeln des Drachen. Damit begeben wir uns unter seinen Schutz."

Eine Schule zum Lernen und Leben

Tatsächlich, so beobachten Lehrer und Erzieher an der Erika-Mann-Schule gleichermaßen, sind ihre Schüler in den letzten Jahren selbstbewusster und gelassener geworden. Zwar arbeitete die Schule auch schon vor dem Umbau mit reformpädagogischen Ansätzen, erzählt Karin Babbe. So gibt es zwei Stunden Theaterarbeit pro Woche, die Sprachfähigkeiten und soziale Kompetenzen fordern und ein "grünes Klassenzimmer" für Biologieunterricht unter freiem Himmel. Auch auf Zensuren verzichtet die Schule. Stattdessen finden regelmäßige Beratungsgespräche zwischen Schülern, Eltern und Lehrern statt.

Erika Mann Grundschule Berlin-Wedding. Foto: Lydia Heller, 11.9.2012
Überall wird konzentriert gelerntBild: DW

Gleichwohl, der Einfluss der Silberdrachenwelt auf die Lernatmosphäre in der Schule war enorm. "Die Kinder fühlen sich hier zuhause und deshalb lernen sie hier auch gerne", sagt Karin Babbe. Besuchergruppen aus dem Ausland oder Journalisten, die seit dem Umbau regelmäßig im Haus zu Gast sind, staunen immer wieder über die Kinder, die überall im Gebäude konzentriert arbeiten. Um die Gäste kümmern sich die Schüler mittlerweile sogar selbst: Sogenannte "Live-Speaker" führen die Besucher durch das Haus.

Wenn die Schüler aus dem Kiez um die Erika-Mann-Grundschule eine Chance haben sollen, so Karin Babbes Credo, dann brauchen sie den besten Unterricht, den Deutschland zu bieten hat. Derzeit sieht es gut für sie aus: 80 Prozent der Kinder verlassen die Schule mit einer Empfehlung für die Realschule oder das Gymnasium.