"Die Ausnahme"
8. Dezember 2012Deutsche Welle: Herr Leygraf, können Sie die Ergebnisse Ihrer Analyse kurz zusammenfassen?
Prof. Dr. Norbert Leygraf: Untersucht haben wir insgesamt 78 Gutachten über Priester, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen worden waren. 50 Priester hatten Handlungen mit Körperkontakt begangen, das war oft Streicheln des Körpers, auch der Geschlechtsteile. Zwölf Priester hatten Internetpornografie konsumiert, sie hatten keinen direkten Kontakt zu Kindern. Wesentliches Ergebnis der Untersuchung war, dass eine spezielle Störung im Bereich der Sexualität, also das, was man in der Psychiatrie eine Pädophilie nennt, nur in Ausnahmefällen vorlag. Die Ursachen für diese Taten waren oft eher berufliche Krisen, Gefühle der Einsamkeit, soziale Isolation oder eine Nähe-Distanz-Problematik.
Ist das ein überraschendes Ergebnis für Sie?
Nein, ich habe in den letzten Jahren selbst schon viele Gutachten über Priester angefertigt. Ich möchte die Übergriffe nicht verharmlosen. Doch im Vergleich zu dem, was man sonst im Bereich von sexuellen Missbrauchshandlungen z. B. an Kindern findet, waren es vergleichsweise geringfügige Delikte. Wenn diese Delikte strafrechtlich relevant waren, dann waren es sogenannte Fälle des einfachen sexuellen Missbrauchs. Schwerer sexueller Missbrauch an Kindern, also Handlungen, die mit dem Einführen des Genitals in den Körper des anderen einhergingen, lagen nicht vor.
Sie sagten, die Priester seien in den seltensten Fällen pädophil, trotzdem werden in den Gutachten zum größten Teil Übergriffe auf Kinder und Jugendliche beschrieben. Wie passt das zusammen?
Nicht jeder, der sich an Kindern und Jugendlichen vergreift, muss deshalb eine pädophile oder pädosexuelle Orientierung haben. Auch im Bereich der Normalkriminalität ist es so, dass die pädophilen Täter nur etwa 30 bis 40 Prozent derjenigen ausmachen, die sich dann auch an Kindern und Jugendlichen vergreifen. Es ist vor allem auch ein Problem von Nähe. Die Priester hatten nun einmal einen sehr engen Kontakt zu Messdienern, Jugendführern und ähnlichen. Da hat die Gelegenheit es eben ergeben, dass sexuelle Übergriffe stattfanden.
Ist das System dann das Problem?
Nein. Wenn das System das Problem wäre, dann wären solche Taten sehr viel häufiger als man bisher weiß. Wenn man die Meldungen der letzten Jahre zusammennimmt und vergleicht mit der Zahl der Priester, dann haben Priester eigentlich weniger solcher Handlungen begangen als die Männer in der Allgemeinbevölkerung.
Reden wir über die Rückfälligkeitsquote. Wie bewerten Sie, ob Priester weiter in den Gemeinden arbeiten dürfen oder nicht?
Wenn es eine pädosexuelle Orientierung gibt, ist es vorbei. Dann kann man so jemanden nicht mehr in der Kirche arbeiten lassen. Auch dort muss man aber sehen, dass man für ihn sorgen muss. Wenn er völlig ins Bodenlose fällt, ist die Rückfallgefahr viel größer. Deshalb sollte man ihn in einem System halten, wo er unterstützt und kontrolliert wird. Bei vielen Priestern lagen die Übergriffe teils schon Jahrzehnte zurück, als sie in speziellen Krisensituationen steckten. Danach gab es dann oft keine Übergriffe mehr. Aus prognostischen Gründen kann man dann nicht sagen, dass sie nicht mehr in der Kirche arbeiten dürften.
Wie viele der betroffenen Priester sollen denn demnach in der Kirche weiterarbeiten, und wie viele nicht?
In 47 Prozent der Fälle hatten wir überhaupt keine Bedenken. In 37 Prozent der Fälle waren wir für eine Einschränkung. Das heißt, man könnte diese Priester zum Beispiel noch in Altenheimen oder Krankenhäusern einsetzen. Bei 15 Prozent waren wir der Meinung, dass es aus prognostischer Sicht viel zu riskant wäre, sie wieder einzusetzen.
In welchem Rahmen ist es denn wichtig, dass auch Therapien stattfinden?
In etwa 20 Prozent der Fälle haben wir zu einer Behandlung geraten. Das betraf nicht unbedingt den sexuellen Bereich, sondern eher Fragen wie: Wie gehe ich mit Krisensituationen um? Wie gehe ich mit depressiven Verstimmungen um? Wie kann ich meine soziale Isolierung überwinden?
Gibt es denn genügend Therapieplätze?
Wenn es um diese allgemeinen Probleme geht, kann man zu jedem Psychiater oder Psychotherapeuten gehen. Die wenigen, bei denen es um eine sexuelle Problematik im engeren Sinne geht, haben Schwierigkeiten, als Priester in eine Behandlung zu kommen. Sexualstraftäterbehandlung ist eine Gruppentherapie. Andere Therapiemitglieder könnten dann auch schnell mit ihrem Wissen an die Presse gehen oder ähnliches. Die Bischofskonferenz überlegt deshalb, eine zentrale Behandlungsmöglichkeit zu schaffen, die speziell für Priester ist.
Wie erfolgreich sind solche Sexualtherapien?
Es gibt eine Studie aus den USA über ambulant behandelte Priester, die eine Rückfallquote hatten von fünf Prozent. Eigentlich ist es banal, aber es ist eben so: Die Priester haben dann eben doch ein viel stärker ausgeprägtes Gewissen und haben wegen ihrer Taten in der Regel auch sehr viel mehr Gewissenskonflikte und Gewissensbisse, als ich das in der normalen Begutachtung von Tätern her kenne. Von daher sind sie auch durchaus mehr bestrebt, etwas dagegen zu tun.
Prof. Dr. med. Norbert Leygraf ist Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen im Ruhrgebiet. Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihm die wissenschaftliche Leitung für die Untersuchung "Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland - Analyse forensischer Gutachten 2000-2010" übertragen. Die Ergebnisse sind am Freitag (07.12.2012) vorgestellt worden.