Libanon: Kein Ausweg in Sicht
16. Juni 2020Zunächst diskutierte er die Lage mit den ranghöchsten Vertretern der Sicherheitsbehörden, am Montagabend dann trat der libanesische Präsident Michel Aoun entschlossen an die Öffentlichkeit. "Derartige Akte von Vandalismus werden fortan nicht mehr zugelassen", erklärte er. Nötig sei "eine Welle von Verhaftungen". Er habe die Sicherheitsbehörden angewiesen, "präventive" Operationen zu verstärken, um weitere Gewalt zu verhindern.
Auch Premierminister Hassan Diab bezog deutlich Stellung zu den Demonstrationen, zu denen sich zahlreiche Libanesen am vergangenen Wochenende in mehreren Städten des Landes versammelt hatten. Es habe "Sabotageakte" gegeben, angezettelt von "Schlägern" unter den Demonstranten. "Diese Schläger haben kein anderes Motiv als Vandalismus. Sie sollten ins Gefängnis geworfen werden", hieß es in einer Erklärung aus dem Büro des Premiers.
Der Zorn der Demonstranten
Die jüngsten Kundgebungen schließen sich an jene Demonstrationen an, bei denen zahlreiche Libanesen seit dem vergangenen Herbst gegen die Herrschenden auf die Straße gehen. Ihren Unmut konnte auch der Rücktritt des damaligen Premiers Saad Hariri Ende Oktober 2019 nicht mildern.
"Am Anfang konzentrierten sich die Proteste vor allem auf politische Anliegen, sagt Bente Scheller, Referatsleiterin Nahost und Nordafrika der Heinrich-Böll-Stiftung, gegenüber der DW. "So demonstrierten die Menschen etwa gegen Korruption und für Transparenz." Als sich dann aber die wirtschaftliche Lage zunehmend verschlechterte, hätten sich mehr und mehr auch soziale Anliegen in den Protest gemischt. "In diesen Tagen dominiert nun der Ärger darüber, dass die Regierung es versäumt hat, Reformen in Gang zu bringen. Viele Libanesen betrachten die Regierung als untätig und unfähig und sind entsprechend verärgert."
Niedergang der Wirtschaft
Der Zorn der Demonstranten ist umso größer, als das libanesische Pfund einen dramatischen Wertverfall verzeichnet. Seit dem vergangenen Oktober hat es 60 Prozent seines Wertes verloren. In der vergangenen Woche erreichte es einen neuen Tiefstand: Zum ersten Mal waren für einen US-Dollar 5000 libanesische Pfund zu zahlen.
Die Inflation bereitet der Regierung massive Probleme. Bereits im März hatte sie erklärt, sie könne fällige Staatsanleihen nicht zurückzahlen. Ende April bat die Regierung dann den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe. Die Gespräche laufen noch. Der IWF geht davon aus, dass die durch das Coronavirus zusätzlich belastete libanesische Wirtschaft in diesem Jahr um zwölf Prozent schrumpfen wird.
Verarmung der Bevölkerung
Mit der Inflation geht eine massive Verarmung der Bevölkerung einher. Im Libanon gebe es seit Llangem eine enorme Kluft zwischen den sehr Reichen und den sehr Armen, meint Bente Scheller. "Die Mittelklasse ist seit jeher schwach. Und genau sie wird von der wirtschaftlichen Depression relativ am stärksten getroffen und droht nun ihrerseits abzusteigen." Bereits jetzt leben offiziellen Angaben zufolge rund 45 Prozent der Bürger unterhalb der Armutsgrenze. Viele Libanesen klagen, dass sie wegen der hohen Preissteigerungen ihre Familien nicht mehr ernähren können.
Der "Caesar Act" und seine Folgen
Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung nun durch den "Caesar Syria Civilian Protection Act", kurz "Caesar Act", ein neues US-Sanktionspaket gegen Syrien, dessen erste Phase an diesem Mittwoch in Kraft tritt. Das US-Sanktionspaket ist benannt nach dem Pseudonym eines Deserteurs der syrischen Armee, der zehntausende Foto-Dokumente über Verbrechen des Assad-Regimes ins Ausland geschmuggelt hatte.
Den Sturz der Regierung von Machthaber Bashar al-Assad strebt der "Caesar Act" offiziell zwar nicht an. Dennoch richtet er sich gezielt auch gegen Institutionen und hohe Repräsentanten des syrischen Regimes. Eine ganze Reihe von Sanktionen soll die syrische Wirtschaft treffen. Im Fokus der Sanktionen stehen vier Sektoren: Öl und Erdgas, Militärflugzeuge, Bauwesen und Ingenieurwesen.
Dies hat auch Auswirkungen auf den benachbarten Libanon, dessen politische und nationale Geschichte eng mit der Syriens verknüpft ist und in dem die mit Assad verbündete Hisbollah-Miliz politisch und auch wirtschaftlich ein Machtfaktor ist. Zahlreiche Libanesen unterhielten Geschäftsbeziehungen unterschiedlichster Art zu Syrien, sagt Bente Scheller. Der "Caesar Act" treffe deshalb auch sie, und zwar bereits bevor er in Kraft getreten sei, so Scheller. "Viele Libanesen verhalten sich wirtschaftlich jetzt noch defensiver als ohnehin schon."
Zwar haben die USA bereits mehrere Sanktionen gegen das syrische Regime verhängt. Doch zumindest ein Teil der Geschäftsabschlüsse wird weiterhin über libanesische Banken abgewickelt. Zudem finden viele Waren auf Schmuggelrouten den Weg nach Syrien, auch libanesische Landwirte liefern viele Waren in das Nachbarland. "Da Syrien Zölle auf sie erhebt, gelten diese Exporte als Stütze für das Regime“, so Scheller. "Schon die Erwartung, dass diese Beziehungen durch den 'Caesar Act' eingeschränkt werden, hat sich hemmend auf die libanesische Volkswirtschaft ausgewirkt."
Ein Hoffnungsschimmer?
Langfristig aber könnte der "Caesar Act" im Libanon eine politische Entwicklung anstoßen, zu der das Land aus eigener Kraft bisher nicht finde, meint der an der American University of Beirut lehrende Historiker Makram Rabah. Er äußert sich in einem Betrag für den Internet-Auftritt des saudisch finanzierten Senders "Al Arabiya", der traditionell sehr kritisch über die pro-iranische Hisbollah berichtet. Rabah glaubt zwar, die derzeitige, von der schiitischen Hisbollah mitgetragene Regierung werde es "nicht wagen, die Rettungsleine zu zerschneiden, die das Assad-Regimes an die Hisbollah bindet“. Genau diese beiden Parteien seien "in erster Linie für den Schmuggel zwischen beiden Ländern verantwortlich“. Doch für viele andere Libanesen sei der "Caesar Act" kein Strafinstrument, sondern könne, wenn er Wirkung entfalte, langfristig das Land sogar besser vor dem Zugriff der Hisbollah und der "politischen Klasse" schützen, so Rabah.
"Der 'Caesar Act' und die vielen anderen Sanktionen, die gegen diese korrupten Figuren verhängt werden, könnten die Libanesen im Kampf gegen den Schmuggel unterstützen und ihnen helfen, ihre sich rasch erschöpfenden Dollarreserven zu schützen. Die werden sie brauchen, um der Hungersnot zu entgehen“, so das Fazit des Historikers, der damit allerdings nicht unbedingt den Standpunkt vieler Schiiten als größter Bevölkerungsgruppe des Libanon reflektieren dürfte.
So oder so, vorerst dürfte sich die wirtschaftliche Lage im Libanon weiter verschärfen, nicht nur wegen der neuen Syrien-Sanktionen. Expertin Scheller: "Es hat bislang keine Reformen gegeben. Das dürfte den Unmut weiter fördern."