IT-Studenten in Estland haben die Wahl
8. Mai 2009Zwanzig Studenten sitzen am IT-College in der estnischen Hauptstadt Tallinn vor ihren Rechnern und versuchen, ein neues Computerprogramm zu entwickeln. Der 21-jährige Sander Laadi fährt sich mit den Händen durchs Haar. Er ist im zweiten Studienjahr und schlecht auf diese Aufgabe vorbereitet – nicht zum ersten Mal. Bis zum frühen Morgen hat er eine neue Seite fürs Internet entworfen. Nicht für die Uni, sondern für gutes Geld.
Ein Tag, zwei Aufgaben
Seit einem Jahr arbeite er neben dem Studium, sagt Sander. "Mir gefällt dieser Praxisbezug. Du studierst nicht einfach stumpf Mathematik, sondern lernst auch, wie man die Mathematik anwenden kann." Außerdem sei Tallinn eine teure Stadt und durch seinen Job sei er von seinen Eltern unabhängig.
Sander ist nicht der einzige Student, der parallel studiert und arbeitet. Im Sommer kämen fünf bis sechs Stellenangebote pro Tag für die IT-Studenten, sagt die 20-jährige Teele Raev. Sie arbeitet im Studentenrat und leitet diese Firmenanfragen an die Studenten weiter. Auch sie selbst hat so einen Job gefunden. "Ich war auch ein Jahr lang in Schweden, aber ich wollte lieber zurück nach Estland. Hier sind die Chancen viel besser, weil wir noch nicht so viele IT-Spezialisten haben", erklärt die Studentin.
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Das IT-College wurde 2000 in Tallinn gegründet – von Mobilfunkbetreibern, Banken und Softwareentwicklern. Noch heute stehen die Namen der Sponsoren an den Wänden der Übungslabore, die mit neuester Technik ausgestattet sind. Das sei vor zehn Jahren anders gewesen, sagt der stellvertretende Direktor Toomas Lepikult. "Damals herrschte ein eklatanter Mangel an qualifizierten Systemanalytikern und an der Uni gab es keine anständige Technik: 20 Studenten mussten sich einen Computer teilen, das war furchtbar." Deshalb hätten Staat und Industrie kooperiert, erzählt er weiter. "Die Industrie wollte gute Studienmöglichkeiten für ihre Fachleute. Und der Staat hat die Gebühren für jeden zweiten Studierenden übernommen."
Diese Initiative hat sich bewährt: Telefonieren über Internet, Mobiltelefonbanking, kostenloser Internetzugang in jedem Café – Estland zählt längst zu den führenden Nationen im Umgang mit der Informationstechnologie.
Der Job kommt auch ohne Abschluss
Der Programmierer Truls Rinkjob kommt aus den Vereinigten Staaten. Im Übungslabor weist er die angehenden Programmierer in die Geheimnisse des Computers ein. Die Studienbedingungen am IT-College ließen sich mit denen in den USA vergleichen, sagt er. Nur seien die rund 600 Studierenden kaum an einem richtigen Abschluss interessiert. Viele beendeten ihr Studium nicht. "Das wurmt mich. Ich habe einem meiner Studenten einen Job verschafft, aber jetzt kommt er nicht mehr zu den Vorlesungen, weil er soviel zu tun hat. Der Bedarf an Spezialisten ist so groß, dass die Leute schon nach dem ersten Studienjahr angestellt werden."
Diesem Trend will der estnische Staat jetzt entgegenwirken. Nach der Wende war der Bedarf an jungen engagierten Mitarbeitern in allen Bereichen derart hoch, dass viele sogar auf ihren Bachelor-Abschluss verzichteten. Mit einer finanziellen Förderung will Estland die abgebrochenen Akademiker jetzt zu einem Abschluss bewegen.
Die Zeiten haben sich geändert
Paul Nurme hat dieses Angebot angenommen: Der 35-jährige Programmierer, der sich das Programmieren im Sozialismus selbst beigebracht und die Mathematische Fakultät nach einem Semester verlassen hat, ist Manager bei einem Softwareentwickler. Doch jetzt hat er sich am IT-College eingeschrieben, um seinen Bachelor nachzuholen. "Ich kann sicher 500 Euro mehr verdienen, wenn ich einen richtigen Abschluss habe. Vor Jahren war es umgekehrt, da hat niemand auf den Abschluss geschaut. Aber heute wollen die Firmen schwarz auf weiß sehen, ob ich wirklich das kann, was ich verspreche", erklärt er.
Der Student Sander Laadi hat hingegen noch nicht entschieden, ob er sein Studium tatsächlich mit einer Prüfung beenden wird: "Ich möchte meine eigene Firma gründen. IT wird überall gebraucht, die Arbeit hört einfach nicht auf. Und wenn ich in Estland keinen Job mehr finde, dann werde ich eben in andere Länder gehen."
Autorin: Birgit Johannsmeier
Redaktion: Julia Kuckelkorn