Heile Welt im Radio
25. Mai 2010Die Wand schweigt, Leon Rosenbach* schweigt zurück. Vor drei Monaten ist seine Frau mit einem schlimmen Abszess ins Krankenhaus gekommen. Seither hat er nichts von ihr gesehen außer zwei Briefbündeln, vom Richter inspiziert und gehortet.
Eine Frauenstimme reißt Leon aus seinen Gedanken: "Strrrrafzeit!" Im Gefängnishof überschlägt sich ein Transistorradio, Schatten huschen an die Gitter: "Das Knastmagazin von drrraußen nach drrrinnen und von drrrinnen nach drrraußen!"
Sendung mit den meisten Fans
Die Stimme kommt aus einer anderen grauen Zelle, keine vier Kilometer entfernt: Aus einem Nürnberger Hinterhof sendet das alternative "Radio Z" seit 20 Jahren ein Knastmagazin. Ruth Spangler ist die Liebesbotin, die den Grüßen zwischen drinnen und draußen ihre verheißungsvolle Stimme verleiht. Auf die wunderbar anachronistischen, handgeschriebenen Botschaften der Häftlinge antworten die Angehörigen mit elektronischen Dreizeilern.
Für den Sender ist die "Strafzeit" ein Risiko: Schnell schleicht sich eine verschlüsselte Botschaft ein oder grölt ein betrunkener Studiogast Beleidigungen ins Mikro. Eine Rüge der Bayerischen Landesmedienzentrale könnte für Radio Z das Aus bedeuten. Doch die Nürnberger lieben ihre "Strafzeit". "So viel Fanpost bekommt keine unserer Sendungen", sagt Geschäftsführerin Syl Glawion.
Einmal Strafzeit, immer Strafzeit
Kalle Löhser* ist seit kurzem als Studiotechniker dabei. Die Lederjacke verbirgt die Einstiche in den Armbeugen, fast 20 Jahre Heroinabhängigkeit und drei Haftstrafen haben ihn gezeichnet: "Nach dem Stumpfsinn in dieser Irrenanstalt musste ich mich an die einfachsten Dinge wieder gewöhnen – an den Schlüssel in der Hand, das Geräusch des Telefons und den Umgang mit anderen Menschen", erinnert sich Löhser an seine letzte Entlassung. "Ich fühlte das unsichtbare Stigma des "Knackis" auf meiner Stirn und fragte mich, ob es den Leuten auffallen würde." Seit kurzem ist er wieder auf Jobsuche. Sein Engagement in der Strafzeit hat er im Lebenslauf ganz oben platziert.
Beredtes Schweigen
Die Gefangenen gehen auf dem Zahnfleisch, wenn sie von ihrer Familie nichts hören", sagt JVA-Seelsorger Andreas Lösslein. "Die ganze Woche fiebern sie auf den Sonntagabend hin." Er kennt den Psycho-Stress der Häftlinge, sieht die Grausamkeiten, die sich im Inneren des Vollzugs zutragen: eine Vergewaltigung, zwei Suizide, ein Suizidversuch, drei Ausbrüche und ein Prozess gegen den Gefängnisarzt seit 2008. In den Briefen der Inhaftierten steht davon nichts. Es ist wie ein unausgesprochenes Gesetz: Für die Dauer ihrer Haft erfinden sie sich eine heile Welt.
Stippvisite der Freundin
Zehn Minuten vor Sendeschluss stürmt eine junge Frau in die Sendung. Danielle Bertani* klimpert mit Augen und Ohrringen als wolle sie viel lieber im Fernsehen auftreten als im Radio. Hastig kritzelt sie Stichworte in einen Spiralblock und rappt ins Mikro: "Hey Richard/ was geht ab?/ Ich weiß genau/ dass Du auf mich wartest/ Mann/ in Deiner Zelle/ Ich liebe Dich/ Du Dummkopf./ Wenn ich morgen komme/ scheiße/ sei nett zu mir/ Mann."
Kalle Löhser an der Technik verzieht das Gesicht. Er war selbst häufig genug eingesperrt, um zu ahnen, wie sich Danielles Geliebter im Augenblick fühlen muss. Sie stürmt und drängt, er sitzt und grübelt. Sie hat die ganze Welt, er acht Quadratmeter. Draußen vor dem Studio ist Danielles Aufregung in Ungeduld umgeschlagen: "Eigentlich hab ich gar keine Zeit; ich mach das nur, weil's für ihn so wichtig ist. Er will halt, dass alle Welt mitbekommt, was für eine tolle Braut da draußen auf ihn wartet." Sie zählt die Tage bis zum Wiedersehen rückwärts. Doch für Tag Null kann sie nichts garantieren.
*Name von der Redaktion geändert
Autorin: Christina Felschen
Redaktion: Petra Lambeck